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15. März 2023

CSA S16:19 Berücksichtigung von Stabilität und Neuer Anhang O.2

Das Verfahren zu Stabilitätseffekten in elastischen Untersuchungen gemäß CSA S16:19 in Anhang O.2 ist eine Alternative zum Vereinfachten Stabilitätsanalyseverfahren in Abschnitt 8.4.3. In diesem Beitrag werden die Anforderungen des Anhangs O.2 und die Anwendung in RFEM 6 beschrieben.

Tragwerksstabilität ist kein neues Phänomen, wenn es um Stahlbemessung geht. Die kanadische Stahlbaunorm CSA S16 und ihre neueste Version 2019 stellen da keine Ausnahme dar. Ausführliche Stabilitätsanforderungen können entweder mit dem vereinfachten Stabilitätsanalyseverfahren in Abschnitt 8.4.3 behandelt werden, oder neu gemäß Version 2019 mit den Stabilitätseffekten im elastischen Analyseverfahren im Anhang O [1].

In Abschnitt 8.4.1 [1] sind die Stabilitätsanforderungen aufgelistet, die der Tragwerksnachweis mit beiden Verfahren erfüllen sollte. Dazu gehören Verformungen, die zur Struktur beitragen, Auswirkungen nach Theorie II. Ordnung einschließlich P-Δ und P-δ, globale Imperfektionen sowie geometrische Imperfektionen von Stäben, Steifigkeitsabminderung, welche Fließ- und Restspannungen bei Stäben berücksichtigt, und schließlich Unsicherheitsfaktoren hinsichtlich Steifigkeit und Festigkeit der Struktur.

Abschnitt 8.4.3 - Vereinfachtes Stabilitätsanalyseverfahren

Mit dem in 8.4.3 [1] angegebenen vereinfachten Stabilitätsanalyseverfahren werden nur einige Anforderungen aufgelistet.

Geometrische Nichtlinearitäten

Die erste beinhaltet Stabeffekte aus Theorie II. Ordnung bzw. P-Δ, die direkt in der Analyse berücksichtigt werden können. Ein Berechnungsverfahren nach Theorie II. Ordnung haben heutzutage die meisten Statiksoftware-Programmen integriert. Die Alternative ist, alle aus einer Analyse nach Theorie I. Ordnung ermittelten Stablasten und Biegemomente mit dem in 8.4.3.2 (b) [1] definierten Faktor U2 zu vergrößern. Dieser Ansatz eignet sich besser für Handrechnungen oder wenn die Statiksoftware P-Δ-Effekte nicht automatisch berücksichtigt.

Geometrische Imperfektionen

Der zweite Punkt sind die fiktiven Lasten, die unter dem vereinfachten Verfahren in Abschnitt 8.4.3.3 [1] aufgelistet werden. Die aufgebrachte Last entspricht dem 0,005-fachen der gesamten mit Beiwerten versehenen Gravitationslast im betrachteten Geschoss und sollte ähnlich wie die Gravitationslast verteilt werden. Fiktive Lasten werden immer in der Richtung angesetzt, die den größten destabilisierenden Effekt erzeugt. Das bedeutet, dass solche Lasten in der gleichen Richtung wie eine seitliche Windlast aufgebracht werden sollten, um die höchsten Verformungen und Schnittgrößen am Tragwerk zu erzeugen.

Anhang O.2 – Stabilitätseffekte in der elastischen Berechnung

Alternativ zu dem oben beschriebenen vereinfachten Ansatz der Stabilitätsanalyse kann der Anhang O.2 verwendet werden, um die Stabilitätsanforderungen gemäß Abschnitt 8.4.1 [1] zu erfüllen. Dieser Ansatz wurde in die Normversion 2019 aufgenommen und hat viele Ähnlichkeiten mit dem US-Stahlbauhandbuch AISC 360-16 Kap. C Direkte Berechnungsmethode.

Geometrische Nichtlinearitäten

Geometrische Nichtlinearitäten bzw. Auswirkungen nach Theorie II. Ordnung werden in O.2.2 [1]. Wie das vereinfachte Verfahren kann auch eine Berechnung nach Theorie II. Ordnung direkt durchgeführt werden, welche die Auswirkungen von Lasten auf die verschobenen Schnittpunkte der Stäbe (P-Δ-Effekte) einbezieht. Zusätzlich sind die Auswirkungen von Längslasten auf die ausgelenkte Stabform entlang der Länge zu berücksichtigen (P-δ). In O.2.2 [1] gibt es Bestimmungen, in denen P-δ gänzlich vernachlässigt werden kann. Wird P-δ hingegen direkt in die Analyse einbezogen, so kann der in Abschnitt 13.8 - Axialdruck und Bemessung von biegebeanspruchten Bauteilen [1] verwendete Faktor U1 auf 1.0 gesetzt werden.

Geometrische Imperfektionen

Geometrische Stabimperfektionen wie Stabkrümmung oder lokale geometrische Imperfektionen wie Bauteilkrümmung bei Stäben müssen nicht berücksichtigt werden, wenn nach Absatz O.2 [1] bemessen wird. Globale geometrische Imperfektionen sollten jedoch direkt bei der Modellierung oder unter Verwendung von fiktiven Lasten berücksichtigt werden. Es gibt allerdings die Ausnahme, dass diese globalen geometrischen Imperfektionen für seitliche Lastkombinationen nur dann vernachlässigt werden können, wenn sie die Anforderungen des Abschnitts O.2.3.1 [1] erfüllen. Die Anforderungen schließen mit ein, dass die Schwerkraftlasten des Tragwerks in erster Linie von vertikalen tragenden Bauteilen aufgenommen werden und das Verhältnis zwischen maximaler Geschossverschiebung nach 2. Ordnung und Geschossverschiebung 1. Ordnung mit reduzierter Stabsteifigkeit gemäß Abschnitt O.2.4 [1] auf keiner Geschossebene 1,7 überschreitet.

Wenn man diese Imperfektionen nicht vernachlässigen kann, kann die erste Methode der direkten Modellierung verwendet werden. Stabschnittpunkte sollten von ihren ursprünglichen Positionen verschoben werden. Die Größe dieser Anfangsverschiebung ist in Abschnitt 29.3 [1] angegeben und wird in der größten destabilisierenden Richtung angesetzt, die für die meisten Gebäudestrukturen eine Toleranz von 1/500 für Stützenschiefstellung ausmacht. Das wesentliche Problem bei dieser Methode ist die hohe Anzahl an zu berücksichtigenden Modellszenarien. Theoretisch werden auf jeder Geschossebene vier Verschiebungen in die vier verschiedenen Richtungen benötigt. Werden Stabkrümmungseffekte mit Stützenschiefstellung gekoppelt, so kommen noch viele weitere Modellszenarien hinzu, um den größten destabilisierenden Effekt zu erzielen.

Die alternative und bevorzugte Methode für globale geometrische Imperfektionen ist die Anwendung von fiktiven Lasten. Diese Methode ist nur zulässig, wenn die Gravitationslasten überwiegend von vertikalen Bauteilen aufgenommen werden. Fiktive Lasten wurden bereits weiter oben behandelt und werden analog der vereinfachten Stabilitätsanalyse in Abschnitt 8.4.3.2 [1] angesetzt. Allerdings wird beim relevanten Geschoss die Größe von dem 0,005-fachen auf das 0,002-fache der mit Beiwerten versehenen Gravitationslast reduziert. Die Abminderung bezüglich der Größe ist gemäß Abschnitt O.2.3.3 zulässig, da diese fiktiven Lasten nur globale geometrische Imperfektionen berücksichtigen, während fiktive Lasten gemäß Abschnitt 8.4.3.2 [1] auch Unelastizitätseffekte und andere Unsicherheiten berücksichtigen.

Unelastizitätseffekte

Um Unelastizitätseffekte zu berücksichtigen und auch um Ausgangsimperfektionen bei Stäben bzw. lokale geometrische Imperfektionen sowie Unsicherheiten bezüglich Steifigkeit und Festigkeit in Betracht zu ziehen, sollte für Stäbe eine reduzierte axiale Stab- und Biegesteifigkeit nach folgenden Gleichungen in Abschnitt O.2.4 [1] angesetzt werden, was zur seitlichen Stabilität beiträgt.

  • EAr = 0,8τbEA
  • EIr = 0,8τbEI

mit

  • Cf/Cy < 0,5 ; τb = 1,0
  • Cf/Cy > 0,5 ; τb = 4Cf/Cy(1-Cf/Cy)
  • Um lokale Verzerrungen zu vermeiden, schlägt die Norm vor, diese Steifigkeitsreduzierung auf alle Stäbe anzuwenden. Darüber hinaus sollte eine Abminderung der Steifigkeit in Betracht gezogen werden, wenn die Schubsteifigkeit (GA) und die Torsionssteifigkeit (GJ) wesentlich zur seitlichen Stabilität beitragen. Die Steifigkeitsabminderung sollte bei der Analyse von Auslenkungen, Durchbiegungen, Schwingungen oder Eigenschwingungen nicht angewendet werden.

    Anwendung von Anhang O.2 in RFEM 6

    Die neue Generation des FEM-Programms RFEM 6 hat die neuesten Stabilitätsanforderungen der Norm CSA S16:19 gemäß den neuen Bestimmungen des Anhangs O.2 eingebaut.

    Geometrische Nichtlinearitäten

    Die in Abschnitt O.2.2 dargelegten Auswirkungen nach Theorie II. Ordnung [1] werden direkt berücksichtigt, wenn das Berechnungsverfahren zur statischen Analyse auf "Second-order (P-Δ)" eingestellt ist. Dies kann in den Optionen des Kombinationsassistenten für Bemessungssituationen vorgenommen werden. Alle Lastkombinationen unter der Bemessungssituation werden wiederum automatisch auf Theorie II. Ordnung gesetzt. Der Anwender hat die Möglichkeit, die statischen Berechnungseinstellungen einer Lastkombination individuell zu ändern, wenn dies gewünscht ist.

    Für die Stabuntersuchung werden nicht nur P-Δ-Effekte berücksichtigt, sondern auch P-δ. Weitere Informationen zu diesem Thema sowie den Nachweis in RFEM 6 finden Sie im Fachbeitrag 1759.

    Daher kann bei der Stahlstabbemessung der Faktor U1 wie in Abschnitt 13.8 angegeben direkt auf 1,0 gesetzt werden. Diese Option befindet sich im Add-On Stahlbemessung – Tragfähigkeitskonfigurationen – Stabilität – Bemessungsparameter.

    Geometrische Imperfektionen

    Optional ist es dem Anwender von RFEM 6 möglich, globale geometrische Imperfektionen durch Verschieben von Punkten oder Knoten von Stabschnittpunkten direkt zu modellieren. Damit diese Methode jedoch den größten destabilisierenden Effekt erzeugt, müssen mehrere Modelle mit verschiedenen Szenarien durchgeführt werden. Das ist ziemlich zeitaufwendig und umständlich.

    Ein alternativer Ansatz ist es, fiktive Lasten mit den Optionen für Imperfektionen, die in RFEM 6 zur Verfügung stehen, anzusetzen. Zunächst müssen Imperfektionsfälle festgelegt werden, deren Imperfektionstyp im Basis-Register auf "Lokale Imperfektionen" eingestellt ist. Dies wären typischerweise Fälle in den orthogonalen Richtungen X und Y, abhängig von der Anwendung von seitlichen Lasten wie Wind und Erdbeben. Der Imperfektionsfall kann dann im Zuordnung-Register den einzelnen Lastfällen so zugewiesen werden, dass eine möglichst große destabilisierende Wirkung erzielt wird (z. B. sollen fiktive Lasten in +X-Richtung nur bei Windlasten in +X-Richtung angesetzt werden).

    Nachdem die Imperfektionsfälle generiert wurden, können die Stabimperfektionen definiert werden. Im Dialog für Stabimperfektionen ist die CSA S16:19 in den Dropdown-Optionen enthalten. Die fiktive Last wird auf das Stabende (d.h. Stützenkopf) mit einer Größe gleich 0,002 (bzw. 0,005 bei vereinfachter Stabilitätsmethode) aufgebracht und mit der Stabnormalkraft (angesetzte Stabschwerkraft) multipliziert. Am entgegengesetzten Stabende wird intern die gleiche entgegengesetzte Kraft aufgebracht, um unrealistisches Abscheren unten zu vermeiden. Die Definition der Imperfektion wird auf die lokalen Achsen der Stäbe in derselben Richtung angesetzt wie die aufgebrachte seitliche Last, z. B. Wind oder Erdbeben. Des Weiteren wird die Definition auf alle vertikalen Stäbe im Modell angewendet.

    Nachdem die Imperfektionen auf das Modell angewendet wurden, ist die Bemessungssituation standardmäßig so eingestellt, dass Imperfektionen bei allen Lastkombinationen berücksichtigt werden. Imperfektionen sollten bei Bemessungssituationen für Nachweise der Tragfähigkeit angewendet, aber für Bemessungssituationen von Gebrauchstauglichkeitsnachweisen ausgeschaltet werden. Das kann eingestellt werden, indem ein neuer Definitionstyp des Kombinationsassistenten erstellt wird, die Optionen für die Berücksichtigung von Imperfektionen deaktiviert werden, und er nur bei den Bemessungssituationen für Gebrauchstauglichkeit eingesetzt wird.

    Unelastizitätseffekte

    Über die Definitionsoptionen des Kombinationsassistenten und das Kontrollfeld "Strukturmodifikation berücksichtigen" werden lediglich wieder Steifigkeitsabminderungen auf die Bemessungssituation der Tragfähigkeit angewendet. Eine neue Strukturmodifikationsdefinition kann angelegt werden. Im Abschnitt Materialien und Querschnitte im Basis-Register ist das Kontrollfeld "Stäbe" aktiviert. Es erscheint ein neues Register "Stäbe", in dem die Definition der Stabsteifigkeitsänderung gemäß CSA S1-19 O.2.4 | Steel Structures festgelegt ist. Bei dieser Definitionsart kann entweder der Abminderungsfaktor τb automatisch berechnet werden oder es kann ein verallgemeinerter Wert von 1,0 für alle Stäbe vorgegeben werden. Zusätzlich kann der Faktor 0,8 auf die verschiedenen Stabsteifigkeitstypen angesetzt werden. Der Anwender kann festlegen, ob der Faktor τb und 0,8 nur auf die axiale sowie Biegesteifigkeit des Stabes angesetzt werden soll oder ob auch Schub- und Torsionssteifigkeit berücksichtigt werden sollen. Nachdem die Steifigkeitsänderungseigenschaften eingegeben wurden, kann die Definition auf bestimmte Stäbe angewendet werden oder der Eintrag "Alle" wird ausgewählt, um die Einstellung auf alle Stäbe im Modell anzuwenden.

    Da die Reduzierung der Stabsteifigkeit bei der Bemessung der Gebrauchstauglichkeit (z. B. Durchbiegungsnachweise) nicht berücksichtigt werden soll, sollte das Kontrollfeld "Strukturmodifikation berücksichtigen" bei der Definition des Assistenten für die Kombination von Bemessungssituationen hinsichtlich Gebrauchstauglichkeit deaktiviert bleiben.

    Nach diesen Änderungen enthalten alle berücksichtigten Lastkombinationen die Steifigkeitsabminderung der Strukturmodifikation, während alle nicht berücksichtigten Lastkombinationen die volle Stabsteifigkeit verwenden.

    Zusammenfassung

    Wesentliche Anforderungen zur Stabilitätsbemessung gemäß Anhang O.2 des kanadischen Stahlbemessungshandbuchs CSA S16:19 sind vollständig in den Ablauf der Bemessung mit RFEM 6 integriert. Zu diesen Anforderungen gehören insbesondere die Theorie II. Ordnung sowie die Möglichkeit, sowohl fiktive Lasten als Imperfektionen als auch reduzierte Stabsteifigkeiten zu berücksichtigen. Im Webinar Stahlbemessung nach CSA S16:19 in RFEM 6 (USA) wird dieses Thema anhand eines ausführlichen Beispiels erläutert.


Autor

Amy Heilig ist CEO unserer Niederlassung in den USA mit Sitz in Philadelphia. Außerdem leistet sie vertrieblichen und technischen Support und hilft bei der Entwicklung von Dlubal-Softwareprogrammen für den nordamerikanischen Markt.

Links
Referenzen
  1. CSA S16:19, Design of Steel Structures