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19. Oktober 2023

Ausdruck neuer Architektur: Expressionismus

Nach dem Ersten Weltkrieg sehnten sich im Bauwesen viele nach Veränderung. Individuelle, faszinierende Bauwerke entstanden, die sich bewusst vom Neuen Bauen distanzierten. Wir sehen uns einige von ihnen genauer an und fassen abschließend zusammen, was wir vom Expressionismus in der Architektur für unser modernes Bauwesen lernen können.

Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs wuchs in den Menschen der Wunsch nach einer Möglichkeit, ihre Emotionen, Individualität und den Wunsch nach Veränderung auszudrücken. In der Malerei und Literatur entstand in der Nachkriegszeit der Stil des Expressionismus. Auch in der Architektur finden wir zahlreiche Werke dieser Zeit, wenn auch oftmals nicht so offensichtlich, was diese interessanten Gebäude allerdings nicht weniger faszinierend macht. Stattgefunden hat der Expressionismus in Deutschland in der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der 1920er Jahre.

Der Expressionismus in der Architektur ist eine Antwort und Gegenbewegung zum oftmals nüchternen modernen Bauen mit seinen verschiedenen Strömungen. Die Anonymität und Austauschbarkeit von schlichten, geraden Linien habe die Seele der Architektur auseinandergerissen. Eben dieser Riss sollte durch individuelle Bauwerke wieder geschlossen werden. Architekten wollten dem Bauen also sozusagen seine Seele zurückgeben.

Seine Blüte erlebte der Expressionismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorrangig in Deutschland. Bis heute hat dieser Baustil unser Verständnis von Gebäuden und Raumgestaltung verändert. Gezackte, ausdrucksstarke Silhouetten heben sich von umstehenden Gebäuden ganz klar ab und schaffen individuelle Monumente.

In diesem Blogbeitrag sehen wir uns einige der eindrucksvollsten Expressionismus-Bauwerke an. Was macht den Expressionismus in der Architektur so besonders und was können wir daraus für unser modernes Bauwesen lernen?

Merkmale des Expressionismus

Die Merkmale des Expressionismus in der Architektur sind an vielen der Gebäude schon auf den ersten Blick zu erkennen. Während die Moderne bisher vor allem von geraden Linien und Minimalismus geprägt war, möchten Expressionisten ihre Gebäude durch unkonventionelle Formen und Strukturen hervorheben. Emotionen und Bewegung sollten ihren Weg zurück in die Architektur finden. So entstanden organische und oft asymmetrische Bauwerke mit interessanter Fassadengestaltung.

Wie in den meisten Strömungen der Baubranche finden sich auch im Expressionismus neue Baustoffe. Bekannt ist vor allem der größtenteils in Norddeutschland verbreitete Backsteinexpressionismus. Um eine unverfälschte Ästhetik zu schaffen, wurden raue, unverputzte Ziegelmauern verwendet.

Auch mit Licht und Schatten wurde bewusst gearbeitet. Große Fenster lassen in expressionistischen Bauten Tageslicht herein, während oft eher ungewöhnliche Fensterformen und geschwungene Fassaden mit ihrem Spiel von Licht und Schatten eine beinahe mystische Atmosphäre zu erschaffen. Dadurch wird das Besuchen solcher Orte zu einem ganz besonderen Erlebnis.

Beispiele für expressionistische Architektur

Expressionismus in der Baubranche war vor allem in Deutschland sehr verbreitet. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns bei unserer Reise auf deutsche Bauwerke mit starken expressionistischen Merkmalen. Gemeinsam sehen wir uns diese eindrucksvollen Gebäude etwas genauer an. Was macht sie besonders? Welche Geschichte steckt dahinter? Seid gespannt!

Einsteinturm

Potsdam

Beginnen wir mit einem etwas umstrittenen Bauwerk, was die Zuordnung zum Expressionismus betrifft. Der Einsteinturm war das erste bedeutende Bauwerk des später sehr bekannten Architekten Erich Mendelsohn. Mendelson selbst rechnete sein Bauwerk nie zum Expressionismus und auch in Fachkreisen ist man sich bis heute uneinig.

Die harmonischen Formen passen eher zum organischen Bauen, da bewusste Disharmonie ein wichtiges Merkmal des Expressionismus ist. Trotzdem wird der Einsteinturm in der Regel dem Expressionismus zugeordnet. Konzipiert war er als Stahlbetonbau, doch diese Bautechnik war damals noch nicht allzu ausgereift und es gab bereits beim Bau Probleme. So wurde am Großteil des Bauwerks in Massivbauweise mit Ziegelsteinen nachgebessert. Ein Spritzputz sorgte letztendlich für das homogene Aussehen. Dabei führten thermische Spannungen zwischen den unterschiedlichen Materialien immer wieder zu neuen Problemen, welche den Fortbestand des Turms etliche Male infrage stellten.

Der Einsteinturm entstand in den Jahren 1919 bis 1924 in direkter Zusammenarbeit mit dem namensgebenden Physiker Albert Einstein sowie dem Astronomen Erwin Finlay Freundlich. Tatsächlich handelt es sich hier nicht einfach nur um ein Bauwerk, das schlicht Einstein gewidmet wurde. Es handelt sich um ein Sonnenobservatorium, um genau zu sein war es bis zum Zweiten Weltkrieg sogar das bedeutendste Sonnenteleskop in Europa. Hier entstand eine eher ungewöhnliche Verbindung von Wissenschaft und Baukunst.

Nachgewiesen werden sollte hier ursprünglich die Rotverschiebung von Spektrallinien im Schwerefeld der Sonne, begründet durch die Relativitätstheorie. Leider wurde später klar, dass dieses Vorhaben nicht umsetzbar war. Der Einsteinturm wurde Ende des 20. Jahrhunderts grundlegend renoviert und am 1. Juli 1999 wiedereröffnet.

Noch heute befindet sich eine leistungsfähige Sonnenforschungsanlage im Einsteinturm. Die Bildauflösung ist so hoch, dass man damit eine Münze in Größe eines Euros selbst aus 5 km Entfernung noch problemlos erkennen könnte. Damit ist das Observatorium eine wichtige Ergänzung zu den bekannten großen Sonnenteleskopen auf der kanarischen Insel Teneriffa.

Heute ist der Einsteinturm für Besucher nach Anmeldung geöffnet und spielt auch in der Ausbildung des Nachwuchses am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) eine große Rolle.

Gebäude im Zoo Leipzig

Leipzig

Im Jahr 1878 erweiterte der Gastronom Ernst Pinkert seine Gaststätte „Pfaffendorfer Hof“ um ein Wildtiergehege. Damit legte er den Grundstein für einen der ersten und noch heute einen der schönsten Zoos in Europa. Nachdem die Aktiengesellschaft, welche den Zoo aufgekauft hatte, infolge des Ersten Weltkriegs zahlungsunfähig wurde, ging dieser 1920 in den Besitz der Stadt Leipzig über.

Es wurden daraufhin neue moderne Anlagen gebaut, von denen viele noch heute existieren. Eines davon ist der 1926 eröffnete Elefantentempel. Der Architekt James Bühring entwarf das Elefantenhaus im Stil des Expressionismus. Es handelt sich dabei um einen freistehenden, langrechteckigen Bau mit Freianlage. Der eingeschossige Baukörper ist durch eine dunkle Klinkerfassade aus Backstein geprägt und Expressionismus-typisch stark strukturiert.

Mittlerweile wurde der Elefantentempel umfangreich saniert, hat allerdings seinen expressionistischen Charme dabei behalten. Auch die 1928 errichteten Freiflugvolieren und die alte Bärenburg zeigen deutliche Merkmale des Backsteinexpressionismus.

Chilehaus

Hamburg

Kommen wir nun zum vielleicht bekanntesten Bauwerk des Expressionismus. Nicht weit vom Hamburger Hauptbahnhof zieht die spektakuläre Silhouette des Chilehauses alle Blicke auf sich. Dieses imposante Bauwerk gilt noch heute als Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs der Hansestadt nach dem Ersten Weltkrieg und ist zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden.

Der spätere Bauherr des Hauses, ein mittelloser Kaufmann, wanderte in seiner Jugend nach Chile aus. Mit 60 Jahren kehrte Henry Brarens Sloman als reicher Mann zurück und wollte seiner Heimatstadt etwas Gutes tun. Im Oktober 1922 erwarb er ein etwa 5.000 m² großes Grundstück und dazu 4,8 Mio. Ziegelsteine. Sein Ziel: der Bau eines einzigartigen Bauwerks in Form eines Passagierschiffs, um an seine Überfahrt nach Chile zu erinnern, die sein Leben grundlegend verändert hatte.

Der renommierte Architekt Fritz Höger übernahm die Leitung der Bauarbeiten und 1924 hatte der Backsteinexpressionismus eine weitere Attraktion im Zentrum Hamburgs. Als zehnstöckiges Gebäude erreicht das Chilehaus unglaubliche 5.950 m² Grund- und 36.000 m² Nutzfläche. Die markante Gebäudespitze ist Träger eines europaweiten Rekords für den spitzesten Fassadenwinkel und soll an einen imposanten Schiffsbug erinnern.

Seit über 50 Jahren haben hier zahlreiche renommierte Firmen aus unterschiedlichsten Branchen ihren Sitz. 1993 erwarb die Union Investment Real Estate GmbH (vormals DIFA) das Chilehaus, welches seit dem 27. September 1983 unter Denkmalschutz steht.

Anzeiger-Hochhaus

Hannover

Auch in Hannover begegnet uns dieser bereits bekannte Name. Hier entwarf Fritz Höger für den Verlag Hannoverscher Anzeiger A. Madsack & Co. ein weiteres Monument des Expressionismus. Im Jahr 1928 eröffnete hier ein Gebäude mit einzigartigem Baustil als journalistisches und Unterhaltungszentrum der Stadt.

Zu einem Wahrzeichen machte es nicht nur seine auffallende Fassade, sondern vor allem die 12 m hohe, grüne Dachkuppel, in der sich ein Planetarium befand, das auch als Kino genutzt wurde. Dieser Kuppelbau aus grünpatiniertem Kupferblech ist im deutschen Hochhausbau einzigartig. Hier entstand eine Kulturfilmbühne mit 210 Plätzen und eigener Kinoorgel.

Wie viele Wahrzeichen wurde auch das Anzeiger-Hochhaus im Zweiten Weltkrieg beschädigt, überstand diesen jedoch, im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden, beinahe unversehrt. Es hielt 88 Luftangriffen ohne größere Schäden stand, vor allem aufgrund seines Skelettbaus, der ihm eine gute Stabilität bot.

Nachdem am 25.03.1945 infolge eines Angriffs das Planetarium ausbrannte, wanderte das Kino durch etliche Hände, bis es 1982 dem Kino am Raschplatz zugeführt wurde. Nach einer umfangreichen Restaurierung ist Deutschlands höchstgelegenstes Kino bis heute unter seinem ursprünglichen Namen „Hochhaus-Lichtspiele“ offen für kinohungrige Besucher.

Besonders ist auch der Bereich unterhalb des Kuppel-Kinos. Im Pressehaus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die bekannte Zeitschrift „Der Spiegel“ gegründet. Die erste Ausgabe erschien am 4. Januar 1947. Das Anzeiger-Hochhaus ist zudem mediale Geburtsstätte der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Stern“, welche am 1. August 1948 das Licht der Welt erblickte.

Die Verlagsgesellschaft Madsack gibt hier noch heute die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) und die Neue Presse (NP) heraus. Als Teil des Medienzentrums Hannover beherbergt das Anzeiger-Hochhaus Regionalredaktionen von RTL und Sat.1 sowie Abteilungen von ffn und Antenne Niedersachsen.

Gebäude der Böttcherstraße

Bremen

Wir bleiben im Norden Deutschlands und reisen gemeinsam nach Bremen. Hier finden wir zahlreiche faszinierende Gebäude vom Mittelalter bis hin zu unserer modernen Architektur. Interessant ist für uns heute allerdings die heimliche Hauptstraße Bremens. Die Böttcherstraße ist ein wahres Gesamtkunstwerk. Erbaut wurden die Gebäude zwischen 1922 und 1931 und bieten auf einer Länge von 108 m Platz für Handel, Kunst, Kultur sowie natürlich atemberaubende Architektur des Expressionismus.

Dass der Gestalter dieser wunderschönen und einzigartigen Gebäude eigentlich Bildhauer war, fällt schon auf den ersten Blick ins Auge. Bernhard Hoetger schuf mit den Gebäuden der Böttcherstraße ein seltenes Beispiel dafür, wie expressionistische Architektur einen gesamten Straßenzug prägen kann.

Am wohl bekanntesten ist das „Haus des Glockenspiels“. Hier erklingen von Januar bis März um 12, 15 und 18 Uhr sowie von April bis Dezember zwischen 12 und 18 Uhr ganze 30 Meißner Porzellan-Glocken zu jeder vollen Stunde. Dabei drehen sich zehn geschnitzte Holztafeln an der Hausfront. Dargestellt sind hier bekannte Bezwinger des Ozeans.

Wer sich für Museen interessiert, trifft auch hier auf ein expressionistisches Gesamtkunstwerk. Als weltweit erstes Haus, das einer Malerin gewidmet wurde, empfängt das Paula Modersohn-Becker Museum zahlreiche Besucher und eröffnet ihnen nicht nur Werke der Künstlerin, sondern auch Ausstellungen zur klassischen Moderne.

Architektonisch ist das Gebäude wirklich ein Schmuckstück. Zwei Türme erheben sich über das nicht einmal sichtbare Dach, während im Innenraum geschwungene Wände und organisch geformte Treppen beinahe den Eindruck erwecken, man befände sich auf einer begehbaren Skulptur. Im Handwerkerhof, dem Innenhof des Museums, zeigen seit Eröffnung 1926 Menschen aus dem Kunsthandwerk, wie Goldschmiede- und Glasbläserkunst sowie traditionsreiche Bonbons hergestellt werden.

Das markanteste Merkmal der Böttcherstraße ist allerdings das 1936 entstandene Bronzerelief von Bernhard Hoetger, welches den Eingang zum Straßenzug ziert. Ein vom Himmel stürzenden Jüngling richtet sein Schwert abwehrend gegen ein dreiköpfiges Drachenwesen. Der „Lichtbringer“ ist das wohl meistfotografierte Objekt der gesamten Straße.

Fazit Expressionismus

Der Expressionismus in der Architektur war und ist etwas sehr Besonderes. Nach dem zweiten Weltkrieg erweiterte diese Bewegung die Grenzen der traditionellen Bauweise und schuf ein Gegenstück zum Neuen Bauen mit seinen Seitenströmungen.

Architekten ließen sich wieder von Emotionen, Individualität und dem Streben nach Veränderung leiten. Die Bauwerke zeigen noch heute starke Alleinstellungsmerkmale, welche sie zu einzigartigen Kunstwerken aufsteigen ließen.

Was wir aus dem Expressionismus lernen können

Zunächst ist der Expressionismus in der Architektur eine Bewegung, die zu Kreativität und zur Erkundung unkonventioneller Ideen aufruft. Diese Herangehensweise könnte auch uns in der modernen Baubranche helfen, innovative Lösungen für technische Herausforderungen zu finden. Wir müssen traditionelle Denkmuster und Bauweisen überwinden, um uns weiterzuentwickeln. Auch wenn das bedeutet, Risiken einzugehen und neue Wege einzuschlagen.

Der Expressionismus in der Architektur zeigt wieder einmal, dass bei der Gestaltung von Gebäuden nicht nur technische Anforderungen im Vordergrund stehen sollten. Auch die ästhetischen Aspekte und der Anspruch, etwas Individuelles zu erschaffen, machen ein Bauwerk aus.
Einheitslösungen sind nicht immer die beste Option. Oft ist es einfach notwendig, über den Tellerrand der traditionellen Baubranche hinauszublicken und genau diese Einstellung hat den Anhängern des Expressionismus dazu verholfen, Gebäude zu entwerfen, die nicht nur ihren Zweck erfüllen, sondern den Menschen noch lange im Gedächtnis bleiben.

Eine weitere Lektion, die wir vom Expressionismus lernen können, ist die starke Zusammenarbeit zwischen Architekten, Ingenieuren und Künstlern, um komplexe Konzepte umzusetzen. Um in sich stimmige Bauwerke zu errichten, die allen Ansprüchen und Standards entsprechen, ist die Bildung von interdisziplinären Teams absolut notwendig. Gemeinsam kann man sich weiterentwickeln und voneinander lernen, um innovative Lösungen für das gemeinsame Projekt zu schaffen.

Erneut hat uns unsere Baugeschichte gezeigt, dass faszinierende Bauwerke entstehen, wenn Kunst und Baubranche Hand in Hand arbeiten. Expressionistische Architektur geht weit über die Grenzen der Funktionalität hinaus und schafft atemberaubende Gesamtkunstwerke, die auch in Zukunft noch viele bewundernde Blicke auf sich ziehen werden. Selbst moderne Architekten greifen oft auf expressionistische Elemente zurück, um emotionale und individuelle Erlebnisse in ihre Bauten einfließen zu lassen.


Autor

Frau Ruthe ist im Marketing als Copywriterin zuständig für die Erstellung kreativer Texte und packender Headlines.