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5. September 2023

Panik, Vertuschung und ein Hurrikan – Das Citigroup Center

Im Jahr 1977 wurde der siebtgrößte Wolkenkratzer New Yorks eröffnet: das Citicorp Center. Schon ein Jahr später stellte sich heraus: Er könnte halb Manhattan mit in den Tod reißen. Ein Fehler in der Tragwerksplanung führte beinahe zu einer Katastrophe. Wie aber kam es dazu? Das erfahrt ihr in diesem Beitrag.

Meisterwerk mit Makel

Das Citicorp Center, später umbenannt in Citigroup Center, erhebt sich 279 m über die Straßen der Stadt. Mit seinem 45° schrägen, dreieckigen Dach sticht es auf der Skyline sofort hervor: ein wirklich markantes, interessantes Bauwerk. Das Besondere sind jedoch die breiten Stelzen, auf denen es steht. Eleganz trifft auf gerade Linien. Damals wurde es in der Presse als Meisterwerk der Baukunst angepriesen.

Der Ingenieur William LeMessurier wurde als Konstrukteur der Stahlkonstruktion in allen Medien gefeiert, denn er hatte aus der Not eine Tugend werden lassen. Der nord-westliche Teil des Grundstücks, das für den Bau vorgesehen war, gehört zur St. Peter's Church und die Gemeinde war nicht bereit, ihn herzugeben. Sie räumte der Stadt jedoch den Luftraum über der Kirche ein. So entstand die Idee, das gesamte Gebäude auf Stelzen zu setzen.

Gemeinsam mit dem Architekten Hugh Stubbins entwarf LeMessurier also vier 34 m hohe Stelzen, die in der Mitte der Wände dafür sorgen sollten, dass der Gigant auf sicheren Füßen steht. Ein wirklich gewagtes Unterfangen, doch es gelang.

Um etwaigen ungewollten Bewegungen des Hochhauses entgegenzuwirken, ließ LeMessurier einen vollautomatischen „Schwingungstilger“ entwickeln. Das war bis dato einzigartig in New York. Ein etwa 400 t schwerer Betonblock lag auf einem Ölfilm und glich dank hydraulischer Arme jedes Schwanken des Gebäudes aus. Die Stabilität war also jederzeit gewährleistet – oder?

Frischer Wind

Citigroup Center auf wackeligen Beinen

Der Ruhm hielt allerdings kaum ein Jahr lang an. Bereits im Juni 1978 wandte sich ein Ingenieursstudent aus New Jersey an LeMessurier. Dieser äußerte Bedenken, dass der Wolkenkratzer starke Winde überstehen würde. In einer Hausarbeit habe er festgestellt, die Stützen müssten an den Ecken stehen, um schräge Winde abfangen zu können.

LeMessurier war jedoch überzeugt von seiner Konstruktion. Er war sich sicher, der Stelzenaufbau und die Stützstreben in V-Form wären perfekt geeignet, um die Stabilität jederzeit zu sichern. Letztendlich entschied er sich, genau diese Winde in seine Vorlesung zu übernehmen. Als er seine Zahlen dafür erneut überprüfte, kam der Schock: Er hatte sich tatsächlich geirrt. Berechnet hatte er nur die Winde, die senkrecht auf den Wolkenkratzer einwirken, dabei aber die schrägen Winde vernachlässigt.

Anstatt bei schrägen Winden zu sinken, erhöhte sich die errechnete Last auf die Stahlträger um 40 Prozent. Ein absolutes Desaster: Aber es kam noch schlimmer. Um Geld zu sparen, wurden die Träger nicht verschweißt, sondern nur mit billigen Bolzen verbunden. Es zeigte sich: Bei schrägem Wind würde die Belastung der Verbindungen um 160 Prozent zunehmen. Schon Windgeschwindigkeiten eines Sturms, der etwa alle 16 Jahre auftritt, könnten dazu führen, dass der Gigant einfach umkippt. Dabei würde er umstehende Gebäude gleich mit sich zu Boden reißen.

Dazu kam, dass der „Schwingungstilger“ absolut uneffektiv war, sobald auch nur der Strom ausfiel. Damals waren Stromausfälle während eines Sturms keine Seltenheit. Das größte Problem war jedoch die nahende Hurrikan-Saison. Und allem voran der Sturm „Ella“, der sich genau in Richtung New York bewegte. Was also tun, wenn es schon eins vor zwölf ist?

Panik um Citigroup Center

175 Millionen Dollar für die Tonne?

Die anfängliche Panik wich recht schnell der Resignation. LeMessurier schwankte zwischen Schweigen und Selbstmord, entschied sich dann aber dazu, die Konsequenzen zu tragen. Also wandte er sich an das Citicorp Center und erklärte die Problematik. Er war sich in einer Sache sicher: Das würde das Ende seiner Karriere besiegeln und gleichzeitig zu einer regelrechten Massenpanik führen. Verständlich, denn sollte das Citicorp Center wirklich einstürzen, wären mehrere tausend Leben in Gefahr. Aber er könnte sie retten.

  • Ich hatte die Macht, außergewöhnliche Ereignisse zu beeinflussen.“ – LeMessurier am 29. Mai 1995 im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „New Yorker“

Also machte sich LeMessurier gemeinsam mit dem Architekten Stubbins auf den schmerzhaften Weg zum Vorstandsvorsitzenden Walter Wriston. Damals war dieser der weltweit wohl einflussreichste Bankier überhaupt. Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr einer solchen Persönlichkeit erklären müsstet, dass sein 175 Millionen Dollar teurer Wolkenkratzer umkippen könnte, nur weil ihr eure Arbeit nicht richtig gemacht habt?

Die beiden Unglücksraben rechneten mit allem: Allem voran mit einer sofortigen Kündigung und der anschließenden öffentlichen Bloßstellung, die wohl einer beruflichen Steinigung gleichgekommen wäre. Zu ihrer Überraschung blieb Wriston gelassen. Er kritzelte sich einige Ideen auf einen Notizblock und meinte nur, sie würden das zusammen schon wieder geradebiegen. Eine Presseerklärung und etwas PR standen ganz oben auf seiner To-Do-Liste.

Was versteht ein Bankenchef unter PR? Aufklärung? Vorbereitung der Bevölkerung auf eine Katastrophe mit wohl weltweiter Berichterstattung? Nicht einmal ansatzweise. Er nutzte die Presseerklärung zur gezielten Beschwichtigung der Presse. Sinngemäß sagte er aus, dass Ingenieure, Namen nannte er nicht, empfohlen hätten, das Stützsystem des Gebäudes solle durch Schweißarbeiten weiter verstärkt werden. Dabei versicherte er der Öffentlichkeit gleichzeitig: „Es besteht keine Gefahr.“ Natürlich nicht.

Im Gegensatz zur Öffentlichkeit mussten die Behörden über die nahende Katastrophe informiert werden. Die Katastrophenschutzbehörde der Stadt und auch das Rote Kreuz waren sich einig: Jetzt hieß es, Ruhe zu bewahren und – ganz wichtig – zu schweigen, um eine Massenpanik zu verhindern. In den nächsten Tagen gingen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Kreuzes in den umliegenden Häuserblöcken von Tür zu Tür oder befragten Menschen auf den Straßen.

Eine statistische Erhebung zur Marktforschung sollte dabei helfen, die Zahl der möglichen Toten genauer bestimmen zu können. Makaber, nicht wahr? Aber nur so konnte sich der Katastrophenschutz darauf vorbereiten, im Ernstfall so viele Menschen wie möglich aus dem Gebiet zu evakuieren.

Mission: „Wir retten Manhattan“

Nachts im Citigroup Center

Für den Notfall war also alles vorbereitet. Jetzt konnten sich alle Beteiligten in Ruhe daran machen, das Gebäude auf ein statisches Level zu bringen, das auch einem Alle-16-Jahre-Windstoß standhalten würde. Nun hieß es: In die Hände gespuckt und an die Arbeit. LeMessurier war in der Verantwortung, seinen Konstruktionsfehler zu beheben. Er plante, 2 Zoll Stahlplatten verschweißen zu lassen, über 200 Bolzenverbindungen des Stützensystems.

Das sollte problemlos ausreichen, um die überlasteten Stützen zu verstärken. Kein Problem für geübte Schweißertrupps – also theoretisch, denn praktisch nahte die Hurrikan-Saison. Die Zeit drängte und es kam sogar noch schlimmer: Ein Sturm mit Hurrikan-Potenzial bewegte sich auf die Stadt zu. Am 31.08. erhielt er dann offiziell den Hurrikan-Status und ließ LeMessurier und seinen Leuten das Herz einige Etagen tiefer rutschen. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 220 km/h war „Ella“ der stärkste Hurrikan, der je auf kanadischen Gewässern gemessen wurde. Nun musste es also wirklich schnell gehen.

LeMessurier startete eine regelrechte Nacht-Und-Nebel-Aktion. Jeden Nachmittag um 17 Uhr erschienen Schreiner, die Holzverschläge um die Träger herum errichten. Näherte sich gegen 20 Uhr der Feierabend, wurden die Büros im Citicorp Center leer – Doch das blieb nicht lange so. In möglichster Geheimhaltung rückten Schweißertrupps an. Sie rissen die Wandverkleidungen auf und widmeten sich den Stahlplatten. Acht Stunden lang arbeiteten sie unermüdlich daran, die Stützen zu verstärken, bis morgens um 4 mehrere Aufräumkommandos vorbeikamen. Sobald gegen um 8 die ersten Büromitarbeiter eintrafen, sah alles so aus, als wäre nichts passiert.

Schweißerarbeiten mitten in der Nacht fielen natürlich auf: erst recht an einem Ort wie diesem. Gerade nachts waren die roten Lichter der Schweißbrenner meilenweit zu sehen – vor allem aus der Luft. Beim Landeanflug auf den Flughafen bot sich jede Nacht ein wahres Lichterfest. Das Leuchten innerhalb der V-förmigen Trägerkonstruktion ließ die Fassade des Gebäudes glühen. Manche fanden dieses Spektakel zu schön, um es zu hinterfragen. Andere wurden natürlich misstrauisch.

So kam es Ende August dazu, dass ein Reporter der „New York Times“ anrief und LeMessurier um ein Interview bat. Das Versteckspiel würde also in Kürze vorbei sein. Also mixte er sich in aller Ruhe einen Martini und rief den Reporter um 6 Uhr abends an. Das Schicksal kam ihm hier zur Hilfe, wenn eine Tonbandaufnahme teilte ihm mit: Die Times sei wegen eines Streiks seit 6 Uhr bis auf weiteres geschlossen. Gleichzeitig befanden sich auch alle weiteren großen Zeitungen im Streik.

Am 1. September 1978 kam es, wie es kommen musste: Es wurde in New York eine Warnung für den Wirbelsturm „Ella“ ausgesprochen. Und die Schweißarbeiten? Noch lange nicht beendet. Das war eine wahre Katastrophe. Was nun? Sie mussten die Bevölkerung alarmieren, mit weitreichenden Folgen: Massenpanik, Evakuierung umliegender Häuserblöcke und am Ende Kosten in Millionenhöhe. Dazu kam noch die Veröffentlichung der Tatsache, dass sie einen Monat lang von der Gefahr gewusst und diese bewusst verschwiegen hatten.

  • Wir schwitzten Blut und Wasser.“ – LeMessurier im Interview mit dem „New Yorker“ am 29. Mai 1995

Doch es kam anders. Zur Erleichterung aller Beteiligten und letztendlich natürlich der gesamten Bevölkerung New Yorks hieß es Entwarnung, der Sturm habe abgedreht und würde auf das Meer hinausziehen. Die Gefahr war also gebannt. Es dauerte noch zwölf weitere Tage, bis die Evakuierungspläne verworfen werden konnten. Dagegen dauerten die nächtlichen Schweißarbeiten noch bis Oktober an, übrigens ähnlich lange wie die Streiks der großen New Yorker Redaktionen.

Letztendlich kam es, wie es in der schnelllebigen Medienwelt auch heute üblich ist: Aus den Augen, aus dem Sinn. Niemand fragte mehr nach und es wuchs Gras über die Beinahe-Katastrophe am Citicorp Center. Kein gewöhnlicher Sturm, nicht einmal ein starker Hurrikan hätte mehr die Kraft, den Wolkenkratzer von seinen Stelzen zu stoßen. Ende gut, alles gut?

Siebzehn Jahre später

Citigroup Center – War da was?

Die Behörden und die Citigroup übten sich in einvernehmlichem Stillschweigen. Gerüchten zufolge soll sich LeMessurier selbst verraten haben: Klischeehaft bei einem alkoholreichen Abend in einer Bar, 17 Jahre später. Ein Reporter des „New Yorker“ ist dem Ganzen schließlich nachgegangen und vereinbarte mit LeMessurier ein Interview.

So wurde die Geschichte zur Beinahe-Katastrophe letztendlich im Jahr 1995 veröffentlicht. Die Sensation stieß in Kreisen der damaligen Beteiligten auf nüchterne Reaktionen. Das Citigroup Center hätte umfallen, zahlreiche Gebäude mit sich reißen können und wir wussten davon, ohne den Anwohnern etwas zu sagen? Ach, nur halb so schlimm. Schließlich ist ja nichts passiert: eine moralisch eher fragwürdige Einstellung.

Programme für Windsimulation

Heute haben wir in der Tragwerksplanung ganz andere Möglichkeiten als damals. Windkräfte, die auf Gebäude einwirken, können wir ganz einfach von einem Windsimulationsprogramm berechnen lassen. Eines dieser Programme ist RWIND aus dem Hause Dlubal. Dabei handelt es sich um einen digitalen Windkanal, bei dem sämtliche Windlasten und -strömungen, die auf das Gebäude einwirken, berücksichtigt und berechnet werden.

Mit einem solchen Softwaretool wäre dieser Fehler damals mit Sicherheit aufgefallen. Gerade in der Entwurfs- und Planungsphase sparen Ingenieure und Ingenieurinnen dank RWIND einen erheblichen Betrag an Zeit. Sobald diese Winddrücke und Windlasten berechnet sind, können sie direkt in ein Statikprogramm, wie zum Beispiel RFEM, übertragen werden.

RWIND klingt für euch nach einem interessanten Programm? Dann erfahrt ihr auf unserer Website mehr darüber. Ihr könnt das Programm auch kostenlos in vollem Umfang testen. Mehr dazu findet ihr hier:

RWIND 2 | Windsimulation

Möchtet ihr euch die Folge im Podcast selbst einmal anhören? Dann hier entlang:

Podcast-Folge 056: Panik, Vertuschung und ein Hurrikan

Autor

Frau Ruthe ist im Marketing als Copywriterin zuständig für die Erstellung kreativer Texte und packender Headlines.

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