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28. September 2023

Außen alt, innen neu: Baukunst des Historismus

Im Historismus wurden Baustile vergangener Epochen wieder aufgegriffen, mit viel Raum für Eigeninterpretationen. Dadurch entstand ein Mix verschiedener Baukunstformen, die noch heute Blicke auf sich ziehen. Doch was können wir aus dem Historismus für unser modernes Bauwesen lernen?

Die Phase des Klassizismus klang mit dem Fortschreiten des 19. Jahrhunderts langsam aus. Doch der Gedanke, Vergangenes aufzugreifen und neu umzusetzen, blieb. Während sich die vorangegangene Epoche der Architektur also mit der Rückbesinnung auf die Antike beschäftigte, wurden von 1830/1840 bis über die Jahrhundertwende verschiedene Stile der Vergangenheit nachgeahmt: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko. Der Historismus war entstanden.

Die Gründe dafür liegen in den gesellschaftlichen Umständen der damaligen Zeit. Durch die industrielle Revolution kam es zu einer Bevölkerungsexplosion und einem regelrechten Bauboom. Es fehlten Mittel und auch Zeit, um sich Gedanken zu einem eigenen Stil zu machen, also wurden Vorbilder der Vergangenheit herangezogen. Dank des Kolonialismus gelangten auch außereuropäische Baustile nach Europa und der Historismus blühte auf.

Merkmale des Historismus

Anders als in den Epochen zuvor handelt es sich bei historistischen Bauformen in der Regel um eine reine Fassadengestaltung. Für den Rest der Gebäude wurden moderne Materialien und Technologien verwendet. In dieser Zeit erfolgte auch die Trennung zwischen den Berufsgruppen Architekt und Ingenieur. Der Architekt war für die Fassade zuständig, der Ingenieur für alles dahinter.

Von außen lassen sich die Fassadengestaltungen also zumeist einem der früheren großen Baustile zuordnen, während im Inneren weit moderneres Mauerwerk zu finden ist. In Deutschland beispielsweise kennen wir diesen „neuen“ Stil unter anderem als „Gründerzeit“-Gebäude.

Wichtiger als die regelkonforme Ausführung eines früheren Baustils war, dass die Fassaden an vergangene Zeiten erinnerten und möglichst dekorativ aussahen. Oftmals wurden die verschiedenen Stilrichtungen auch einfach bunt gemischt, ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges Erbe. Oder aber es wurde davon ausgegangen, dass erst diese modernen Einflüsse den Stil, auf den zurückgegriffen wurde, komplettieren konnten. Daher traf diese Form der Architektur auch einiges an Kritik.

Beispiele für Historismus

Um Beispiele für Historismus zu suchen, braucht es oftmals keine langen Wege. Viele Menschen, die in Altstädten wohnen, haben solche Gebäude sozusagen vor der Tür oder leben selbst darin. Sehen wir uns also einige historistische Bauwerke genauer an.

Neues Rathaus Leipzig

Leipzig, Deutschland

Durch die wachsende Bevölkerung wurde das alte Rathaus allmählich zu klein. Ein neues musste also her! Die Stadt erwarb 1895 die Pleißenburg vom Königreich Sachsen. In deren Turm befand sich ehemals eine Sternwarte der Leipziger Universität. Zwar wurde diese durch die dichte Bebauung der Umgebung bereits verlegt, doch die Turm-Silhouette der Pleißenburg war als Wahrzeichen der Stadt so bekannt, dass sie auch nach dem Neubau gut erkennbar sein sollte. Hier sollte der ursprüngliche Stil also aufgegriffen und modern aufgearbeitet werden.

Nach sechs Jahren Bauzeit wurde das Neue Rathaus 1905 eingeweiht und auch eine Erweiterung konnte 1912 eröffnet werden. Verbunden sind beide Bauten durch die sogenannte „Beamtenlaufbahn“, eine zweigeschossige Gebäudebrücke. Wie viele Bauwerke wurde auch das Neue Rathaus Opfer von Bombenangriffen in Zweiten Weltkrieg. Die zügigen Restaurationsarbeiten ließen das Gebäude und seine Innenräume jedoch bald wieder in altem Glanz erstrahlen.

Der gesamte Gebäudekomplex wurde aus hellgrauem, mainfränkischem Muschelkalkstein erbaut und der Turm befindet sich direkt auf dem Sockel des alten Pleißenburgturms. Besonders interessant ist die Uhr des Rathauses, welche nachts blau schimmert und die lateinischen Worte „mors verta, hora incerta“ (Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss) trägt. Zudem findet sich hier einer der letzten öffentlich zugänglichen Paternosteraufzüge Deutschlands, welcher noch immer funktioniert.

Schloss Neuschwanstein

Füssen, Deutschland

Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts wünschte sich der damalige König Ludwig II., seine „Raubritterburg“ mit spätgotischen Details zu einer monumentalen „romanischen“ Burg umbauen zu lassen. Besonders die Wartburg bei Eisenach sollte hier als Vorbild dienen. Der Umbau begann 1869 und war 1884 zu größten Teilen abgeschlossen.

Die Umsetzung dieses Projekts ist so gut gelungen, dass Neuschwanstein heute für viele Menschen der Inbegriff einer mittelalterlichen Burg geworden ist. Tatsächlich handelt es sich hier aber um ein historistisches Meisterwerk, eine stilistische Neuschöpfung, hervorgegangen aus der Architektur der Wartburg und Burgendarstellungen mittelalterlicher Buchmalerei.

Es sollte eine Burg in altem romanischen Stil sein, ohne auf technologische Neuerungen verzichten zu müssen. Daher verfügte das „romanische“ Schloss Neuschwanstein nach seiner Fertigstellung über eine für damalige Verhältnisse hochmoderne Küche, eine Warmluftheizung und große, dicht schließende Stahlzargenfenster aus der Industrie.

Vorherrschende Einflüsse kamen aus der Romanik mit ihren einfachen geometrischen Figuren wie Quadern und Rundbögen. Auch Merkmale der Gotik sind zu finden, beispielsweise emporstrebende Linien, schlanke Türme, filigraner Bauschmuck. Die Ausstattung des Thronsaals dagegen wurde im Stil der byzantinischen Kunst umgesetzt. Noch heute ist Schloss Neuschwanstein ein berühmtes und beliebtes Ausflugsziel, das bereits Schauplatz vieler bekannter Filme gewesen ist.

Berliner Dom

Berlin, Deutschland

Mit der Gründung des Deutschen Bundes als Nationalstaat nach dem „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ sollte eine repräsentative evangelische Kirche an die Stelle des alten klassizistischen Berliner Doms treten. Man wollte sich mit anderen Weltkirchen messen können. Also wich der ehemalige Bau mittels Sprengung und machte Platz für eine Kirche im Stil der italienischen Hochrenaissance und des Barock.

Von 1894 bis 1905 wurde an der stilistischen Neukomposition gearbeitet. Während die viergeschossige Ostseite an barocke Palastarchitektur erinnert, zeigen die zahlreichen Säulen und Dreiecksgiebel, vor allem an den Eingängen, Merkmale der Renaissance auf. Gleichzeitig wurden allerdings bereits Elektroleitungen gelegt und schon 1905 verfügte der Dom über einen elektrischen Aufzug.

Die Kuppel nach Vorbild der italienischen Renaissance wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und mit 98 m nicht in voller Höhe wieder aufgebaut, ist aber trotz allem noch immer ein beeindruckender Anblick. Einzuordnen ist der Berliner Dom damit in die historistischen Strömungen Neorenaissance und Neobarock. Noch heute ist er flächenmäßig die größte evangelische Kirche Deutschlands und gleichzeitig eine der bedeutendsten dynastischen Grabstätten Europas.

Zigarettenfabrik Yenidze

Dresden, Deutschland

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts blühte die Zigarettenindustrie geradezu auf. Hugo Ziets, ein Unternehmer, dem die Orientalische Tabak- und Cigarettenfabrik Yenidze gehörte, plante den Neubau eines Fabrikgebäudes in Dresden. Sein erworbenes Grundstück lag zwar verkehrstechnisch sehr günstig, doch in diesem Areal durften keine Fabrikgebäude errichtet werden. Denn der Stadt Dresden war seine Sicht auf die barocken Gebäude der Innenstadt heilig.

Es durfte also nicht aussehen wie eine typische Fabrik. Da traf es sich gut, dass Ziets sich ohnehin ein Bauwerk in orientalischem Stil wünschte. Also ließ er sich die neue Fabrik mit einem eher fantasievollen orientalisch angehauchten Aussehen planen. Wirklich Ahnung vom orientalischen Baustil hatten weder der Bauherr, noch sein Architekt.

Eine farbig verglaste Kuppel und der als Minarett getarnte Schornstein ließen das Gebäude von außen wie eine Moschee wirken. Daher stammt auch der umgangssprachliche Name „Tabakmoschee“. Als Vorbild soll ihm dafür die Grabmoschee des Emirs Khair Bak in Kairo gedient haben.

Ein Neubau im Stil einer Kultur, die fremd und zu dieser Zeit kaum wirklich bekannt war? Das traf in einer historischen Stadt wie Dresden auf Fassungslosigkeit und Ablehnung. Seinen Werbezweck hat das Fabrikgebäude, das nicht wie eines aussieht, allemal erfüllt. Denn es ist noch heute ein Bauwerk, das Blicke magisch anzieht.

Parlament Österreich

Wien, Österreich

Der heutige Standort des Parlaments ist ein einstiger Paradeplatz, ein Bereich mitten in der Wiener Innenstadt, der weder begrünt noch bebaut werden durfte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieser im Zuge der neuen Stadtplanung für eine Bebauung freigegeben. Geplant waren drei zentrale staatliche Bauten: das Rathaus, ein Reichsratsgebäude und die Universität. Der Bau begann 1874 und zog sich über einige Jahrzehnte, bis das Reichsratsgebäude, das heutige Parlament, vollständig ausgestattet war.

Geplant waren für das Reichsratsgebäude ursprünglich zwei Bauten, eines für das Herrenhaus und eines für die Abgeordneten. Die Doppelmonarchie sorgte letztendlich dafür, dass die architektonischen Elemente beider Gebäudepläne miteinander verbunden wurden.

Ziel des Architekten Theophil von Hansen war es vor allem, möglichst viele Anspielungen und Verweise auf die gelebte Demokratie im Bau unterzubringen. Die säulenartige Bauform und Symbolik, welche sich unter anderem in Skulpturen wie dem Athene-Brunnen zeigte, entlehnte er der griechischen Antike. Denn dort war die Demokratie entstanden und zuhause.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Bausubstanz durch Bombenangriffe stark beschädigt. Bis 1956 dauerte der Wiederaufbau an und vieles an der Innengestaltung konnte dabei nicht oder nur sehr schmucklos wiederhergestellt werden.

Fazit Historismus

Die verschiedenen Strömungen, welche zum Historismus zählen, haben oftmals noch heute eine prägende Wirkung auf unsere Architektur. Gerade in den Innenstädten, wie Wien, wurden ganze Straßenzüge in historistischem Stil erbaut. Der Bau von Gebäuden sollte schnell gehen, von außen dekorativ historisch aussehen und im Inneren modern sein.

Baustile vergangener Epochen wurden von Architekten wieder aufgegriffen, die Regeln dieser aber so sehr gelockert, dass viel Raum für Eigeninterpretationen geschaffen wurde. Dadurch entstand ein Mix verschiedener Baukunstformen, die vor allem Blicke auf sich ziehen. Doch was können wir aus dem Historismus für unser modernes Bauwesen lernen?

Was wir aus dem Historismus lernen können

Es ging im Historismus nicht darum, etwas neues zu entwickeln, sondern altbewährte Konzepte neu aufzuarbeiten und an die moderne Zeit anzupassen. Dadurch entstand eine Vielfalt verschiedener modernisierter Stile. Wir müssen also nicht unbedingt danach streben, vollkommen neue, abstrakte Formen zu erfinden, um sehenswerte Gebäude zu schaffen. Warum nicht kreative Lösungen entwickeln, die auf vergangenen Stilrichtungen basieren und sie neu interpretieren?

Um historistische Bauwerke zu erschaffen, arbeiteten Architekten und Ingenieure eng zusammen. Ästhetik und Funktionalität wurden gemeinsam geplant. Daraus entstand ein modernes Gebäude mit dekorativer historischer Fassade. Heutzutage arbeitet meistens jede Berufsgruppe, ob Architekt oder Ingenieur, in seinem eigenen Bereich. Dabei gehen Chancen auf wirklich einzigartige Gebäude oft verloren. In unserer modernen Baubranche wären mehr interdisziplinäre Projekte wirklich wünschenswert.

Der Historismus verband moderne Baumaterialien wie Gusseisen und Stahl mit der Architektur historisch ansprechender Gebäude. Das könnten wir auch tun. Anstatt auf klassische Glasbauten oder Betonquader zu setzen, würde eine Integration unserer baulichen Vergangenheit dazu führen, dass nicht mehr alle Neubauten gleich aussehen. Etwas Individualismus würde gerade den Innenstädten im Wohnungsbau ganz gut tun.

Wir könnten in der Baubranche eine optische Verbindung zur Vergangenheit herstellen und gleichzeitig modernen Anforderungen gerecht werden. Also weshalb trauen wir uns nicht einfach und wagen etwas Altes Neues? Es muss nicht immer ein typischer Nachbau alter Baustile sein – die Merkmalspalette der Baukunst hält so viele Möglichkeiten für uns bereit. Wir müssen nur zugreifen.


Autor

Frau Ruthe ist im Marketing als Copywriterin zuständig für die Erstellung kreativer Texte und packender Headlines.