Von etwa 1890 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 erstreckte sich eine neue Kunst- und Architekturepoche, die sich bewusst von allem anderen abgrenzte. International hat sich heute die französische Bezeichnung „Art Nouveau“ für diese ganz besondere Stilepoche durchgesetzt.
Während in England dafür der Begriff „Modern Style“ geprägt wurde, erhielt diese Bewegung in Deutschland den Namen „Jugendstil“. Dieser geht auf die Münchener Kunst- und Literaturzeitschrift „Die Jugend“ zurück, welche sich vor allem mit diesem Kunst- und Architektur-Stil beschäftigt hatte.
Obwohl diese etwas mehr als 20 Jahre recht kurz erscheinen, haben sie einen nachhaltigen Eindruck auf unsere Architektur und Bauweisen hinterlassen. Sehen wir uns also genauer an, wie und vor allem warum sich eine so bunte und vielseitige Strömung im Bauwesen durchsetzen konnte. Begeben wir uns auf eine Reise zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Entstehung des Jugendstils
Enge Gassen, graue Wände und verrauchte Straßen im Schatten riesiger Fabrikgebäude: Die Industrialisierung in Europa erreichte zur Jahrhundertwende allmählich ihren Höhepunkt. Sie brachte neben zahlreichen technischen Neuerungen auch große soziale Probleme mit sich. Die entstehenden Fabriken zogen Menschen vom Land in die Stadt und es fehlte im Agrarland Deutschland an Wohnungen. Lebten Mitte des 19. Jahrhunderts noch etwa 60 % auf dem Land, verlagerte sich dieser Wert mit der Jahrhundertwende in Richtung Stadt.
Gleichzeitig zog sich der Historismus infolge der Gründung des Deutschen Bundes (Gründerzeit-Architektur) voller Euphorie durch die wohlhabenden Viertel der Städte und war vielen schnell ein Dorn im Auge. Solchen Wohnraum konnten sich immer weniger Menschen leisten. In Berlin beispielsweise lebte etwa jeder Zehnte in einer möglichst günstigen Kellerwohnung und allgemein verfügte nur jede zweite Berliner Wohnung überhaupt über einen beheizbaren Raum.
Aus diesem Grund wandten sich Architekten und Bauherren von der bisherigen historistischen Bauweise ab. Es entstanden günstigere, schlichte Gebäude, welche für die einfachen Arbeiter auch bezahlbar sein sollten. Schön sahen diese Bauten oft nicht aus. Der Jugendstil entwickelte sich als Reaktion auf dieses Dilemma.
Der grauen, schweren Industrie und ihren oft schmucklosen Fabriken sollte etwas entgegengesetzt werden: bezahlbar, aber ansehnlich sollten die neuen Bauten sein. Nach dem Motto „form follows function“ sollte ein Gebäude nicht überladen, aber ästhetisch aussehen. Bereits von außen müsse auf den ersten Blick erkennbar sein, welchen Zweck es erfüllte.
Merkmale des Jugendstils
So begannen Künstler und Architekten gemeinsam damit, sich von der Natur inspirieren zu lassen, um Kunst und Architektur zu verbinden. Sie erschufen zweckmäßige Bauwerke mit organischen Formen, verzierten die Fassaden und Innenräume mit floralen Mustern und geschwungenen Linien: Ein Gefühl von Eleganz und Leichtigkeit gegenüber dem pompösen Historismus und den wuchtigen schmucklosen Fabrikgebäuden.
Auf den ersten Blick zeigen typische Bauten im Jugendstil eine unverkennbare Leidenschaft für das Schöne, das Organische und das Ornamentale. Hier wurde bewusst mit jeglicher Nachahmung historischer Stile gebrochen. Motive aus der Natur zieren oftmals bunt gestaltete Außenwände und die Inneneinrichtung: Alles sollte in diesem neuen Stil gehalten sein, vom Sofakissen bis hin zur Fassadengestaltung.
Aufwändige Mosaike treffen auf florale Muster. Ranken, die sich am Dachgiebel oder Balkon entlangwinden sowie natürlich dargestellte Frauenskulpturen mit heller Haut und Blumenkranz schmücken eindrucksvolle Bauwerke, die sofort ins Auge fallen. Umgesetzt wurden diese Verzierungen oft aus Eisen, Glas und Keramik, um die natürliche Leichtigkeit zu betonen.
Beispiele für Jugendstil-Architektur
Casa Batlló
Barcelona (Spanien)
Dieses Haus gilt als Meisterwerk des berühmten Architekten Antoni Gaudí und als Paradebeispiel für den Jugendstil. Die organischen Formen und seine Verwendung von Mosaiken und Keramik in der Fassade ziehen sofort Blicke auf sich. Als Nummer 43 liegt das Gebäude am Paseo de Gracia und ist sowohl unter Touristen als auch den Einheimischen bekannt wie ein bunter Hund, wortwörtlich.
Wie in allen europäischen Städten hatte auch Barcelona mit steigenden Einwohnerzahlen zu kämpfen. Daher entstand 1860 eine neue Stadtplanung, der Plan Cerdà. Einflussreiche Familien verlegten ihren Wohnsitz in das Gebiet des Paseo de Gracia, welcher nun als Dreh- und Angelpunkt der Stadt dienen sollte.
Ursprünglich erbaut wurde das Gebäude 1877 und sollte mit einem Besitzerwechsel im Jahr 1903 umgebaut werden. Der Besitzer D. Josep Batlló gewährte dem zuständigen Architekten Antoni Gaudí freie Hand bei der Gestaltung eines geplanten Neubaus. Doch Gaudí ließ das Haus nicht abreißen, sondern gestaltete es zwischen 1904 und 1906 vollkommen neu. Die Fassade erhielt ihre kunstvolle Ausschmückung und die Zwischenwände wurden anders aufgeteilt, damit alles offener und einladender wirkte.
All diese wunderschönen Formen und Farben lassen die Casa Batlló zu einem wahren Gesamtkunstwerk aufsteigen, das dank einer durchdachten Gestaltung der Raumaufteilung neben dem künstlerischen Wert auch eine hohe Funktionalität zeigt.
Seit 1995 ist dieses architektonische Juwel für die Öffentlichkeit zugänglich und zählt außerdem zum Weltkulturerbe der UNESCO. Mit jährlich etwa einer Million Besuchern ist die Casa Batlló eine der beliebtesten kulturellen Sehenswürdigkeiten Barcelonas.
Mathildenhöhe
Darmstadt (Deutschland)
Ein Besuch in Darmstadt lohnt sich, vor allem ein Abstecher ins deutsche Zentrum für Jugendstil-Kunst und -Architektur. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts können Besucher hier zahlreiche Werke der bildenden und angewandten Kunst bestaunen.
Das Institut Mathildenhöhe Darmstadt ist bereits von Weitem zu erkennen. Besonders empfehlenswert sind dabei das Ausstellungsgebäude samt Hochzeitsturm oder auch Fünffingerturm von 1908, das Museum Künstlerkolonie von 1901 und die Städtische Kunstsammlung Darmstadt.
Dieser außergewöhnliche Komplex vereint seit 1900 die Bereiche Erforschung, Präsentation sowie Vermittlung von Kunst und Kultur auf internationaler Ebene. Von 1899 bis 1914 arbeiteten hier zahlreiche Künstler aus aller Welt, darunter auch Joseph Maria Olbrich, der 1901 das bekannte Ernst Ludwig-Haus vollendete. Seit 2021 steht das Institut Mathildenhöhe auf der Liste der UNESCO-Welterbestätten.
Grand Hotel Europa
Prag (Tschechische Republik)
Wer in Prag unterwegs ist, dem fällt das am Wenzelsplatz gelegene Hotel Europa sicher sofort auf. Die prachtvolle Jugendstil-Fassade sticht geradezu aus den umliegenden Gebäuden hervor. Florale Muster zieren die Außenwand und hinterlassen einen verträumten und dennoch angenehm klaren Eindruck.
Ursprünglich wich an dieser Stelle im Jahr 1872 eine alte Postkutschenstation einem Hotel im Neorenaissancestil. Von 1903 bis 1905 erfolgte die Zusammenlegung des Hotels mit zwei weiteren Gebäuden zu einem Komplex in geometrischem Jugendstil, der noch heute für einen faszinierenden ersten Eindruck sorgt. Symmetrie, harmonische Muster und die berühmte Statue auf dem Dach machen das Hotel Europa zu einem Gesamtkunstwerk im Jugendstil.
Die berühmte Skulptur zeigt drei weibliche Figuren und einen Adler, die sich um eine große Laterne versammeln. Diese Zusammenstellung soll Europa symbolisieren. Wiedereröffnet als Luxushotel wurde es unter anderem Schauplatz für Kafkas Lesungen und erlebte seine Blütezeit, bis es 1951 verstaatlicht wurde und immer mehr verfiel.
Falls ihr euch denkt, dass euch die Fassade und das Innere bekannt vorkommen: Als Filmkulisse diente das Hotel Europa beispielsweise für Mission Impossible (1996). Nach umfangreichen Restaurierungs- und Umbauarbeiten erstrahlt das Hotel heute wieder in neuem altem Glanz. Das Café Europa und das Jugendstilrestaurant „Titanic Restaurant“ sind nach wie vor weltberühmt.
Rigaer Jugendstilviertel
Riga (Lettland)
Wenn es weltweit einen Ort gibt, den der Jugendstil sein Zuhause nennen kann, ist es zweifellos Riga. Das Rigaer Jugendstilviertel beherbergt eines der größten Vorkommen von Jugendstil-Gebäuden weltweit. Auffällige Fassaden, verzierte Balkone und hervorragend erhaltene Stuckarbeiten sind eine wahre Liebeserklärung an den Jugendstil.
Mit der Expansion der Hauptstadt Lettlands seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche neue Bauten. Das Jugendstilviertel schließt sich direkt nordöstlich an die Altstadt an und umfasst unter anderem das Viertel der Botschaften sowie die Elizabetes iela und die Alberta iela, an der alle drei Rigaer Stilrichtungen zu finden sind. Richtig gelesen: In Riga bildeten sich drei ganz eigene Formen des Jugendstils.
Besonders auffällig ist dabei der „dekorative Stil“. Skurile Sphinx-Statuen, die Besucher in Riga wohl nicht unbedingt erwarten würden, bewachen Fassaden, welche mit dämonischen Kreaturen und nackten, tanzenden Frauen dekoriert sind.
Etwas strenger und gerader geht es im „lotrechten Jugendstil“ vor sich. Formen von Frauenköpfen werden durch Putz von der Fassade abgehoben, während Ranken und florale Ornamente die Strenge der geometrischen Linien ein wenig aufbrechen.
Aber auch traditionelle Bauten im „national-romantischen Stil“ findet der aufmerksame Besucher hier vor. Hier zeigen sich typische runde und eckige Erker sowie das Wiederaufgreifen der lettischen Holzbauweise. Auch Ornamente und Muster aus der traditionellen lettischen Volkskunst tragen zum Gesamtkonzept bei und verbinden Altes mit Neuem zu einer harmonischen Einheit.
Majolikahaus
Wien (Österreich)
Auch Wien besitzt ein großes Repertoire an Jugendstil-Bauten. Besonders interessant ist dabei das Majolikahaus, entworfen von Otto Wagner. Es wurde 1898 in der Linken Wienzeile 40 errichtet und hebt sich allein durch sein Äußeres deutlich von anderen Gebäuden ab.
Die florale Ornamentik und die Verwendung von Keramikfliesen laden noch heute beim Vorbeigehen zum Träumen ein. Dabei haben diese Fliesen weit mehr Aufgaben als nur gut auszusehen: Sie sind witterungsbeständig, pflegeleicht und abwaschbar. Hygiene, also Funktionalität neben der Ästhetik, war für Otto Wagner ein wichtiger Bestandteil seines Verständnisses der modernen Lebensweise.
Die bunte Blumenornamentik selbst entstammt dabei den Entwürfen seines Schülers Alois Ludwig. Neben der Fassade ist auch das Innere definitiv sehenswert, denn allein das Treppenhaus mit seinem aufwändig gestalteten Aufzugsgitter ist ein wahrer Blickfang.
Metrostation Porte Dauphine
Paris (Frankreich)
Paris ist weltbekannt für seine ikonischen Metro-Stationen. Wer dort einmal mit der U-Bahn gefahren ist, hat sie sicher sofort bemerkt: die typischen rechteckigen weißen Fliesen an den Wänden. Interessant ist vor allem, dass sie im Jahre 1900 nach dem Nouveau-Stil (Jugendstil) eigens für die Metrostationen in Paris entworfen wurden.
Noch heute sind diese sogenannten „subway tiles“ im gleichen Format von 7,5 x 15 cm sehr begehrt, beispielsweise für die Verkleidung von Bädern oder Küchen. Doch nicht nur das Innere der Stationen zeigt deutliche Spuren des Jugendstils. Auch die Eingangstore sind geradezu ikonisch.
Die Metallpfosten dieser Tore erinnern sehr stark an Blätter und Blüten eines Baumes. Hier zeigt sich also die starke Naturverbundenheit, welche durch eine gläserne Überdachung noch zusätzlich verstärkt wird. Solche gut erhaltenen Tore gibt es leider kaum noch in Paris. Eines von zweien ist der Eingang zur von Hector Guimard entworfenen Metrostation Porte Dauphine.
Fazit: Baukunst Jugendstil
Zusammenfassend ist der Jugendstil eine sehr eigenwillige Komposition aus Kunst und Architektur, die dem industriellen Zeitgeist trotzen sollte. Florale Muster und natürliche Schönheit traten der schmucklosen Massenproduktion entgegen und schufen eine perfekte Harmonie aus Funktionalität und Ästhetik.
Noch heute sind Jugendstil-Bauwerke auffällige und dennoch nicht störende Elemente in der Architektur vieler Städte Europas. Vor allem aber ist der Jugendstil Vorreiter der Moderne, die in diesem Blog ebenfalls noch zum Thema wird.
Was wir vom Jugendstil lernen können
Nur etwas mehr als 20 Jahre lang blühte die Bewegung des Jugendstils in Europa auf und dennoch hat sie noch heute tiefe Spuren im Bauwesen hinterlassen. Wie viele Architekten und Designer können auch wir für unsere moderne Baubranche von den Ideen des Jugendstils profitieren.
Gerade diese Harmonie aus Funktionalität und Ästhetik sorgt dafür, dass eindrucksvolle Bauwerke entstehen, die absolut zeitlos wirken. Wie auch in der Zeit der Industrialisierung erleben wir heute eine fortschreitende Expansion unserer Städte.
Damit Wohn- und Geschäftshäuser nicht in tristem Grau-in-Grau untergehen, würden uns ein wenig Hang zur Natur und Liebe zum Detail dabei helfen, individuelle, funktionale Gebäude zu erschaffen. Tradition und Moderne müssen einander nicht ausschließen. Stattdessen sollten wir beides zu einer neuen Einheit verschmelzen, mit dem Besten aus beiden Welten.
Die Kunst mit der Welt um uns herum zu verbinden, verhilft dem modernen Bauwesen dazu, über sich hinauszuwachsen. Das Bauen an sich ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Gelegenheit, Bauwerke zu schaffen, die in Erinnerung bleiben.