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29. August 2025

Plastische Querschnittsnachweise mit dem Teilschnittgrößenverfahren

Dieser Artikel geht auf den plastischen Nachweis von dünnwandigen Stahlquerschnitten mit dem Teilschnittgrößenverfahren ein. Nach kurzer Zusammenfassung der Grundlagen wird die Anwendung des Verfahrens anhand eines Beispiels gezeigt.

Im Stahlbau dürfen Querschnitte, die bestimmte Kriterien erfüllen (im EC3 sind diese Anforderungen z.B. mit der Querschnittsklasse 1 und 2 verknüpft), plastisch bemessen werden. Dies bedeutet, dass sich Spannungen durch „Fließen“ des Grundmaterials im Querschnitt umlagern können. Während die Formeln zur Berechnung der plastischen Grenzschnittgrößen in den gängigen Stahlbaunormen, wenn überhaupt, nur für ausgewählte Querschnittstypen und Schnittgrößenkombinationen gelten, ist das Teilschnittgrößenverfahren (TSV) beinahe universell anwendbar. So können beispielsweise auch Bauteile, die Normalkraft, Biegung und gemischte Torsion (inkl. Wölbkrafttorsion) erfahren, wirtschaftlich bemessen werden. Das Teilschnittgrößenverfahren steht dem Anwender nun auch in RFEM 6 und RSTAB 9 unter den „erweiterten plastischen Bemessungsregeln“ (siehe Tragfähigkeitseinstellungen des Add-Ons „Stahlbemessung“) zur Verfügung.

Das Teilschnittgrößenverfahren (TSV) wurde von Kindmann und Frickel an der Ruhr-Universität Bochum (Deutschland) entwickelt und wird in [1] ausführlich beschrieben. Es sind zwei unterschiedliche Varianten im Programm implementiert:

1. Teilschnittgrößenverfahren mit Umlagerung

Das Verfahren mit Umlagerung ist für 2- und 3-Blech-Querschnitte mit orthogonal orientierten Querschnittsteilen geeignet und deckt somit die wichtigsten offenen Profilformen im Stahlbau an. Zusätzliche Lösungen sind für rechteckige und kreisförmige Hohlquerschnitte implementiert, sodass mit diesem Verfahren die folgenden Querschnittstypen bemessen werden können:

  • doppelt-/einfach-/unsymmetrische I-Profile
  • U-/T-/Z-/L-Profile
  • PI-Profile (Typ A)
  • doppeltsymmetrische rechteckige (RHS)/quadratische (SHS) Hohl- und Kastenprofile (Box)
  • kreisförmige Hohlprofile (CHS)

Die Vorgehensweise beim plastischen Nachweis mit dem Teilschnittgrößenverfahren mit Umlagerung ist wie folgt:

  1. Transformation der Schnittgrößen aus der Tragwerksberechnung in ein spezielles (ȳ-z̄) Bezugssystem (Ursprung für I-Profile wird z.B. in Stegmitte gesetzt)
  2. Aufteilung und Nachweis der Schnittgrößen, die Schubspannungen verursachen (Querkräfte und Torsionsmomente) auf Querschnittsteilebene
  3. Aufteilung und Nachweis der Schnittgrößen, die lokale Biegung in Querschnittsteilen orthogonal zum Bezugs-Querschnittsteil (z.B. Steg für I-Profile) verursachen. Die Fließgrenze wird hierbei infolge der wirkenden Schubspannungen aus 2. abgemindert.
  4. Nachweis der Resttragfähigkeit des Querschnittes für Schnittgrößen die Biegung in Querschnittsteilen parallel zum Bezugs-Querschnittsteil (z.B. Steg für I-Profile) verursachen (mit abgeminderter Fließgrenze infolge Schub) plus Normalkraft.

Zu beachten ist, dass der Nachweis der Querschnittstragfähigkeit nicht mit dem vollplastischen Zustand des Querschnitts geführt wird. Stattdessen wird in Schritt 4. mithilfe einer Fallunterscheidung geprüft, ob die einwirkenden Schnittgrößen innerhalb eines bestimmten Wertebereiches liegen und vom Querschnitt aufgenommen werden können. Die resultierende Ausnutzung des Querschnittsnachweises ist daher in der Regel nicht proportional zur Einwirkung und gibt lediglich Auskunft über das Gelingen (Ausnutzung kleiner oder gleich 1) oder Scheitern (Ausnutzung größer 1) der Querschnittsnachweise.

2. Teilschnittgrößenverfahren ohne Umlagerung

Das Teilschnittgrößenverfahren ohne Umlagerung [1] ist prinzipiell für alle dünnwandigen Querschnittstypen geeignet. Der Ablauf sieht bei dieser Nachweisvariante wie folgt aus:

  1. Aufteilung des Querschnitts in seine Elemente. Es können Grenzwerte für das Längen-zu-Breiten Verhältnis eingegeben werden, ab dem ein Element für die Bemessung berücksichtigt werden soll.
  2. Ermittlung der Schnittgrößen in jedem Querschnittsteil auf Grundlage der elastischen Spannungen an den Enden der Querschnittsteile
  3. Nachweis der ermittelten Schnittgrößen gegen die plastischen Grenzschnittgrößen des Querschnittsteils

Die Teilschnittgrößen werden hier also in Abhängigkeit der elastischen Spannungsverteilung in jedem Querschnittsteil berechnet. Eine plastische Umverteilung der Beanspruchung wird nur innerhalb und nicht zwischen den Querschnittsteilen in Rechnung gestellt. Dennoch lassen sich gegenüber einer rein elastischen Bemessung häufig deutlich wirtschaftlichere Ergebnisse erzielen.

Um die Ausgabe nicht zu überfrachten, wird in der Stahlbemessung an jeder Bemessungsstelle jeweils nur das Bemessungsergebnis für das Querschnittsteil mit der größten Ausnutzung ausgegeben.

Beispiel für den Querschnittsnachweis mit dem TSV

Das gewählte Beispiel wird auch in [1] unter Abschnitt 10.7.6 behandelt und zeigt sehr eindrücklich die Leistungsfähigkeit des Teilschnittgrößenverfahrens. Selbst für unsymmetrische Querschnitte (hier IU 322/0/208/234/74/12/25/19/0/0/0/0, fy = 240 N/mm²) mit allgemeiner Beanspruchung (Normalkraft + Doppelbiegung + gemischte Torsion) kann ein plastischer Querschnittsnachweis geführt werden:

Beanspruchung im Hauptachsensystem (100%)
N 400 kN
Vu "-400" kN
Vv 200 kN
MT,pri 4 kNm
MT,sec 50 kNm
Mu 300 kNm
Mv 40 kNm
Mω 2.5 kNm²

1. TSV mit Umlagerung

Aufgrund von leichten Abweichungen in Belastung und Querschnittsgeometrie, wird der Biegenachweis des unteren Flansches in der Stahlbemessung leicht überschritten, während er in [1] eine Ausnutzung von 100% ergibt. Um das Konzept der Nachweisführung an dieser Stelle dennoch vollständig erläutern zu können, werden die Schnittgrößen aus Tabelle 1 um 2.5% reduziert und mit einem Lastfaktor von 97.5% gerechnet.

Im ersten Schritt werden die Schnittgrößen aus dem (u-v) Hauptachsensystem in das (ȳ-z̄) Bezugssystem transformiert. Das Bezugssystem hat seinen Ursprung im Schwerpunkt des Stegblechs und entspricht auch von der Orientierung dem globalen (Y-Z) Koordinatensystem in Bild 2. Die Hauptachsenneigung α beträgt hier 35.5°:

Vȳ = Vu * cos(α) - Vv * sin(α) = -430.8 kN

V = Vv * cos(α) + Vu * sin(α) = -67.6 kN

Mx̄s = Mxs - Vu * vM-D + Vv * uM-D = 70.4 kNm

Mȳ = Mu * cos(α) - Mv * sin(α) + N * z̄S-D = 217.4 kNm

M = Mv * cos(α) + Mu * sin(α) - N * ȳS-D = 199.3 kNm

Mω̄ = - Mω + Mu * uM-D + Mv * vM-D + N * ω̄ k = 3.15 kNm²

Im zweiten Schritt werden die Schubspannungen in den separaten Querschnittsteilen nachgewiesen. Dafür werden die relevanten Schnittgrößen (Querkräfte sowie primäre und sekundäre Torsionsmomente) zunächst auf die Flansch- und Stegplatten aufgeteilt (hier exemplarisch und verkürzt für den unteren Flansch):

Vy,u = - (Vȳ * z̄o + Mx̄s) / (z̄u - z̄o) = -452.3 kN

Mxp,u = Mxp * IT,u / IT = 1.46 kNm

wobei IT,u / IT den Anteil der Torsionssteifigkeit des unteren Flansches zur Torsionssteifigkeit des gesamten Querschnitts beschreibt (hier 37.6%). Anschließend werden die relevanten plastischen Tragfähigkeiten (Vpl,y,u und Mpl,xp,u) des Querschnittsteils bestimmt und die Ausnutzung bestimmt:

ητ,u = |Mxp,u| / (2 * Mpl,xp,u) + √((Mxp,u / (2 * Mpl,xp,u))² + (Vy,u / Vy,u)²) = 0.64

Im dritten Schritt werden die lokalen Biegemomente der Flansche geprüft. Die Teilbeanspruchung setzt sich hier aus dem Biegemoment M und dem Wölbbimoment Mω̄ zusammen. Auch hier wird exemplarisch wieder nur der untere Flansch behandelt:

MSa,z,u = (- M * z̄o + Mω̄ ) / (z̄u - z̄o) = 111.2 kNm

Der Nachweis erfolgt mit reduzierter Streckgrenze infolge der Schubbeanspruchung (s.o.) und unter Berücksichtigung eines Exzentrizitätsparameters δ:

Mpl,z,u,τ = Mpl,z,u * fy,d,u * √(1 - (τu / τu,Rd)²) = 89.8 kNm

ηM = (|MSa,z,u| / Mpl,z,u,τ) / (1 + δu²) =0.99

Zuletzt wird geprüft, ob die wirkende Normalkraft N und das Biegemoment Mȳ vom „verbleibenden“ Querschnitt aufgenommen werden können. Eine geschlossene analytische Lösung steht für diesen letzten Schritt nicht zur Verfügung. Stattdessen wird ein 2-dimensionaler Lösungsraum bestimmt und geprüft, ob die einwirkende N-Mȳ-Kombination innerhalb oder außerhalb der Grenze (= Interaktionskurve) dieses Lösungsraumes liegt. Die Grenzkurve wird für den positiven und negativen Momentenbereich jeweils mithilfe von 2 linearen und einer parabolischen Gleichung beschrieben. Per Fallunterscheidung wird geprüft, welcher Abschnitte der Grenzkurve für die gegebene Normalkraft nachweisrelevant ist. Für die genauen Berechnungsschritte wird auf [1], bzw. die Ergebnisdetails der Stahlbemessung verwiesen. Die für das Beispiel resultierende Grenzkurve mit den unterschiedlichen Abschnitten ist im Folgenden dargestellt:

In Bild 3 ist neben der Grenzkurve auch die im Beispiel wirkende N-Mȳ Kombination dargestellt (roter Diamant). Es ist sofort ersichtlich, dass die anliegende Beanspruchung innerhalb des Lösungsraumes der Grenzkurve liegt, sodass der Querschnittsnachweis erfüllt ist. Unklar ist allerdings, wie groß die verbleibende "wahre" Kapazität des Querschnittes ist, d.h. welche Steigerung der anliegenden Schnittgrößenkombination bis zum Erreichen der Grenztragfähigkeit möglich wäre. Die Proportionalität zwischen Beanspruchung und Ausnutzung wird durch die nichtlinearen Interaktionsbedingungen (bereits im 2. Schritt) verletzt. Die "wahre" Ausnutzung kann daher nur iterativ (also in mehreren Berechnungsschritten unter Variation der Beanspruchung) bestimmt werden.

2. TSV ohne Umlagerung

Zum Vergleich wird der Querschnitt auch mit dem TSV ohne Umlagerung bemessen. Hier werden zunächst in jedem Querschnittsteil (jedes dünnwandige Element wird hierbei als separates Querschnittsteil betrachtet) die elastischen Normal- und Schubspannungen an den Anfangs-, Mittel- und Endknoten ermittelt. Hier wird die Berechnung (wie in der Stahlbemessung) nur für das maßgebende Querschnittsteil präsentiert (Element 5 in Bild 2):

Randspannungen Element 5, Schnittgrößen gem. Tabelle 1
σx,A 71.2 N/mm²
σx,E 279.6 N/mm²
τA 96.6 N/mm²
τM 108.2 N/mm²
τE 0.0 N/mm²

Aus den Spannungen werden dann unter Berücksichtigung der Abmessungen die plastischen Teilschnittgrößen der Querschnittsteile (hier Querschnittsteil i = 5) berechnet:

N5 = t * l * (σx,A + σx,E) / 2 = 800.0 kN

M5 = t * l² * (σx,A - σx,E) / 12 = 19.0 kNm

V5 = t * l * (τA + 4 * τM + τE) / 6 = 402.4 kN

Mxp,5 = Mxp * IT,5 / IT = 1.1 kNm

Anschließend wird die Schubtragfähigkeit des Querschnittsteils nachgewiesen:

ητ,5 = |Mxp,5| / (2 * Mpl,xp,5) + √((Mxp,5 / (2 * Mpl,xp,5))² + (V5 / Vpl,5)²) = 0.74

Zuletzt wird die Normalkraft-Momenten-Interaktion geprüft. Die Widerstände werden wie beim TSV mit Umlagerung mit reduzierter Streckgrenze berechnet:

fy,5,red = fy,5 * √(1 - (τ5 / τRd,5)²) = 161.4 N/mm²

ηN+M,5 = (N5 / Npl,τ,5)² + |M5| / Mpl,τ,5 = 1.611

Mit der in Tabelle 1 dargestellten Ausgangsbeanspruchung ist der Querschnittsnachweis also nicht erfüllt. Eine iterative Berechnung zeigt, dass der Nachweis bei einer Reduzierung der Beanspruchung auf 86% gerade so erfüllt werden kann.

3. Elastischer Querschnittsnachweis

Der elastische Querschnittsnachweis ist mit einer maximalen Ausnutzung von 129% in Element 5 ebenfalls deutlich überschritten. In diesem Fall kann der max. Lastfaktor direkt aus dem Kehrwert der maximalen Ausnutzung zu 77.5% bestimmt werden.

Fazit

Die plastische Bemessung mit dem Teilschnittgrößenverfahren ermöglicht, sofern zulässig, im Vergleich zum elastischen Querschnittsnachweis eine deutlich wirtschaftlichere Bemessung. Im Beispiel lässt sich eine Traglaststeigerung von 11% (TSV ohne Umverteilung) bzw. 25.8% (TSV mit Umverteilung) erreichen.


Autor

Herr Dr. Bien betreut die Entwicklung im Bereich Stahlbau und unterstützt unsere Anwender im Kundensupport.

Referenzen


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