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16. Januar 2024

Formfindungsprozess

Unabdingbarer Formfindungsprozess

Praktisch weisen die für Membrankonstruktionen verwendeten Materialien eine reine Zugtragfähigkeit auf. Sämtliche Lasten werden ausschließlich über Zug abgetragen. Um bei Membrankonstruktionen eine ausreichende Beanspruchbarkeit und Formbeständigkeit zu gewährleisten, muss eine geeignete Vorspannung vorgesehen werden.

Infolge der Null-Biegesteifigkeit der Materialien ist es nicht möglich, den Formvorschlag von dem Vorspannungsentwurf zu trennen, denn die Form wird durch die Vorspannung definiert. Jedes räumliche Kräftegleichgewichtssystem (d. h. Gleichgewicht der Vorspannkräfte) bestimmt eindeutig die räumliche Form einer Membrankonstruktion. Indem man Randbedingungen festlegt und nachfolgend die Vorspannkräfte im Gleichgewichtszustand definiert, gibt man die eigentliche Form der Membrankonstruktion vor. Die Suche nach der Form einer Membrankonstruktion in Abhängigkeit von der definierten Vorspannung wird als Formfindung bezeichnet.

Es sind zwei Vorgehensweisen innerhalb des Formfindungsprozesses zu unterscheiden:

  1. Vorgabe von Randbedingungen und Vorspannung ➝ Es wird eine entsprechende Gleichgewichtsform gesucht.
  2. Vorgabe von Randbedingungen und Form (Verformung) der Membran ➝ Es wird eine Gleichgewichtsvorspannung gesucht.

Beide Varianten sind zulässig und haben ihre Vorteile. Nie darf jedoch das Zusammenspiel zwischen Form und Vorspannung vernachlässigt werden. Mit der zweiten Variante lässt sich die Endform einfacher beeinflussen, während die erste Variante das Entwerfen der endgültigen Vorspannung erleichtert.

Da die Vorspannung für die Tragfähigkeit und Lebensdauer der Konstruktionen maßgebend ist, bietet das Add-On 'Formfindung' auch diese Methode der Formfindung an.

Wichtige Merkmale des Formfindungsprozesses

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Vorspannung und Form der Membranbauten. Die Eigenschaften der verwendeten Gewebe spielen dabei keine Rolle. Der Formfindungsprozess ist materialunabhängig.

Die Form einer Membrankonstruktion kann neben Randbedingungen und Vorspannung auch durch eine Belastung geprägt werden. Bei pneumatisch vorgespannten Membranen wird somit die Gleichgewichtsform für die vorgegebene Vorspannung und den Innendruck gesucht.

Die Last aus Eigengewicht kann ebenfalls den Formfindungsprozess beeinflussen. Man kann so nach einer Form suchen, die der vorgegebenen Vorspannung, dem Eigengewicht und ggf. dem Innendruck entspricht. In der Regel beeinflusst aber das im Formfindungsprozess angesetzte Eigengewicht die endgültige Form und Vorspannung kaum, da das Eigengewicht des Gewebes gering ist.

Ansatzmethode für die Formfindung

Die Form einer Membrankonstruktion definiert sich eindeutig durch die Randbedingungen und Gleichgewichtsvorspannung, ggf. durch das Gleichgewicht zwischen Vorspannung und Last (Innendruck, Eigengewicht). Eine Schwierigkeit ist jedoch die Festlegung der Gleichgewichtsvorspannung, d. h. des räumlichen Kräftegleichgewichtssystems.

Beim Entwurf einer Membrankonstruktion ist eine isotrope Vorspannung praktisch die einzige Gleichgewichtsvorspannung, die man im Voraus festlegen kann. So eine Vorspannung erweist sich jedoch nicht immer als geeignet – sowohl hinsichtlich der eigentlichen Form als auch einer nachfolgend angesetzten nichtlinearen Analyse. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass eine der isotropen Vorspannung entsprechende Form infolge bestimmter Randbedingungen physikalisch gar nicht möglich ist.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, im Formfindungsprozess eine orthotrope Vorspannung vorzuschreiben. Eine konstante orthotrope Vorspannung im Gleichgewichtszustand ist nur möglich, wenn die Gaußsche Krümmung der jeweiligen Fläche gleich null ist (z. B. bei ebenen oder zylindrischen Flächen). Doppelt gekrümmte Membrantragwerke zeichnen sich durch diese Eigenschaft nicht aus. Man müsste die Membrankonstruktionen mit einer allgemeinen räumlichen orthotropen
Vorspannung versehen. Dies ist jedoch realitätsfern und verlangt ein Instrument, das durch die Vorgabe der Vorspannungen in zwei Richtungen (Kettrichtung und Schussrichtung) nicht nur eine Gleichgewichtsform, sondern auch die Gleichgewichtsvorspannung finden kann

In 'Formfindung' sind zwei zur Findung von Gleichgewichtsformen und Gleichgewichtsvorspannungen verwendbare Methoden implementiert - die Projektionsmethode und die Standardmethode. Beide Methoden beruhen auf der bekannten Formfindungsmethode Updated Reference Strategy (URS) von K. U. BLETZINGER und E. RAMM aus dem Jahre 1999 [1].

Tipp

Generell gilt, dass die Projektionsmethode für hohe Kegelformen vorteilhaft ist, während sich die Standardmethode für punkt- und bogengestützte oder pneumatisch stabilisierte Membranen eignet.

Bei Kegelformen schnürt sich die Membrankonstruktion bei der Projektionsmethode (1) nicht so stark ein, wie bei der Standardmethode (2):

Obwohl die Form bei den beiden Segeln gleich ist, wird die aufgebrachte Vorspannung bei der Standardmethode (2) besser angenähert, als bei der Projektionsmethode (1):

Projektionsmethode

Wie erwähnt, ist es praktisch ausgeschlossen, eine allgemeine Gleichgewichtsvorspannung im Raum festzulegen. Nicht so in einer Ebene, wo neben einer isotropen Vorspannung auch eine konstante orthotrope Vorspannung (orthogonal ausgerichtete Vorspannung) vorliegen kann. Darüber hinaus ist es möglich, beim Definieren einer Vorspannung in Radialrichtung auch die Vorspannungen in Tangentialrichtung für alle Nachbarpunkte aufgrund der Gleichgewichtsbedingung zu ermitteln.

Info

In einer Ebene kann man also ein Kräftegleichgewichtssystem eindeutig definieren.

Diese Gegebenheiten nutzt die Projektionsmethode, die auf der Projizierung der in der globalen XY-Ebene definierten Vorspannung in die tatsächliche Lage der Membrankonstruktion beruht. Falls die Neigung der Membran gegen die globale XY-Ebene gleich null ist, entspricht die Vorspannung in der Membran den vorgegebenen Werten. Wenn die Neigung der Membran gegen die globale XY-Ebene ungleich null ist, steigt die Vorspannung in Richtung der Falllinie an, während die Vorspannung in Richtung der Schichtlinie abnimmt. Nähert sich die Neigung der Membran gegen die globale XY-Ebene einem rechten Winkel, nimmt die Vorspannung in Richtung der Falllinie erheblich zu, während sich die Vorspannung in Richtung der Schichtlinie null nähert.

Tipp

Die Projektionsmethode ist vorteilhaft für Kegelmembranen und konische Strukturen.

Mit diesem Verfahren wird das Vorspannungsgleichgewicht in Richtungen der globalen Achsen X und Y bewahrt. Innerhalb des Formfindungsprozesses wird dann nach derjenigen Anordnung der Membrankonstruktion im Raum gesucht, die eine Gleichgewichtsvorspannung auch in Richtung der globalen Achse Z gewährleistet. Die Projektionsmethode, bei der die Gleichgewichtsvorspannung in der Projektion bestimmt wird, führt zur Festlegung der Gleichgewichtsvorspannung im Raum und somit auch zur Findung einer eindeutigen räumlichen Form der Membrankonstruktion.

Das Finden des Gleichgewichtszustands erfolgt unter Anwendung der Methode Updated Reference Strategy [1]. Der Formfindungsprozess ist daher ein nichtlineares Problem.

Standardmethode

Die Standardmethode unterscheidet sich grundlegend von der Projektionsmethode: Die vorgegebene Vorspannung wird nicht geändert (stabilisiert). Bei der Ermittlung der Gleichgewichtsform geht die Standardmethode von den beiden vorgegebenen Werten aus, die für die Vorspannung in Kettrichtung und Schussrichtung festgelegt wurden.

Info

Die Standardmethode beschreibt einen Oberflächenspannungsvektor, der sich frei im Raum bis zur Zielposition bewegen kann. Im Gegensatz dazu beschreibt die Projektionsmethode einen Oberflächenspannungsvektor, der sich semi-frei mit einer Fixierung auf seine X-Y-Koordinaten im Raum bewegen kann.

Gewöhnlich wird eine physikalisch nicht im Gleichgewicht stehende Vorspannung vorgeschrieben (außer isotroper Vorspannung). Deshalb ist nicht zu erwarten, dass beim Ansatz einer orthotropen Vorspannung z. B. von 2,0 kN in Kettrichtung und 1,0 kN in Schussrichtung eine Form der Membrankonstruktion mit einer Vorspannung erreicht wird, die diesen Anforderungen genau entspricht. Da die Forderung nach einer konstanten orthotropen Vorspannung in der Regel keine entsprechende Lösung findet, würde die Form bei der sich ständig wiederholenden Verwendung dieser Vorspannung im Iterationsprozess nicht gegen die Gleichgewichtslage konvergieren. Deshalb wird die gewählte Vorspannung in der Membrankonstruktion nur in der gewünschten Anzahl der Iterationen angesetzt. Danach wird eine Stabilisierung angewendet.

Tipp

Die Standardmethode ist vorteilhaft für punktgestützte, bogengestützte und pneumatisch stabilisierte Membranen.

Die Standardmethode nutzt die Tatsache, dass bei der Vorgabe einer nicht im Gleichgewicht stehenden Vorspannung für die Membrankonstruktion die zur Ebene der Membran senkrechten Verformungen häufiger auftreten als die in der Ebene der Membran. Sobald die Anzahl der festgelegten Iterationen für die Verwendung der vorgeschriebenen Vorspannung erreicht ist, wird die Konstruktion stabilisiert. Dabei nähert sich die resultierende Vorspannung in der Regel stark an die vorgegebenen Werte an. Die Standardmethode beruht ebenfalls auf der Formfindungsmethode Updated Reference Strategy [1].

Formfindung bei kombinierten Konstruktionen (Membrane, Seile)

Während in 'Formfindung' die Form der Membranen anhand der vorgegebenen Werte der Vorspannung bestimmt wird, kann man für Seile neben Vorspannungen auch geometrische Anforderungen definieren wie z. B. die endgültige Stichhöhe oder Länge.

Membranen sind oft Teile eines Bauwerks, das viele biegesteife Elemente (Träger, Platten, Schalen usw.) enthält. Während des Formfindungsprozesses wird nach einer Gleichgewichtsform der Gesamtkonstruktion gesucht. Die Vorspannung in der Membran und in den Seilen wirkt aktiv auf die biegesteifen Elemente des Bauwerks, die dieser Vorspannung entgegenwirken müssen.

Falls es nicht erwünscht ist, dass die biegesteifen Elemente im Formfindungsprozess mitwirken,
können Sie mit Strukturmodifikationen, oder auch Bauzuständen (Add-On Analyse von Bauzuständen) temporäre Zustände definieren. Dies ermöglicht ein Fixieren der Elemente für den Formfindungsprozess und das Abbilden der Steifigkeiten für diese Zustände.

Tipp

Es ist individuell abzuschätzen, welche Variante der vorgesehenen Montage der Konstruktion besser entspricht.

Obwohl die Form bei den beiden Segeln ähnlich ist, hat die Steifigkeit der Stützen (2) einen Einfluss auf die Form und den Verlauf der Schnittgrößen gegenüber der Vereinfachung mit Knotenlagern (1):


Referenzen
  1. Bletzinger, K.-U.; Ramm, E.: A General Finite Element Approach to the Form Finding of Tensile Structures by the Updated Reference Strategy, International Journal of Solids and Space Structures 14, Seiten 131 - 146. Amsterdam: Elsevier, 1999
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