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30. November 2023

Architektur des Brutalismus: Polarisierende Kolosse

Unter allen Stilen der Architektur ist der Brutalismus wohl derjenige, welcher am meisten polarisiert. Entweder, man liebt diese Betonkolosse, oder aber man hasst sie. Was ist so besonders am Brutalismus und welche interessanten Gebäude entstanden dadurch? Lest gerne rein!

Sehen wir uns in unserer bebauten Umgebung etwas genauer um, finden wir zahlreiche verschiedene Architekturstile. Manche von ihnen überdauerten Jahrhunderte, andere blühten lediglich über einige Jahrzehnte auf, eh bereits andere sie ablösten. Oftmals ist die Architektur ein Spiegel der zeitgenössischen Gesellschaft. Was war den Menschen damals wichtig, was wollten sie mit dem jeweiligen Baustil ausdrücken?

Ein sehr markanter Architekturstil der Moderne ist zweifellos der Brutalismus. Ähnlich wie der Begriff selbst bleiben auch jene Gebäude, die diesem Stil zugeordnet werden können, in Erinnerung. Habt ihr sofort das Bild eines brutalistischen Bauwerks im Kopf?

Doch wie genau entstand dieser doch sehr eigenwillige Baustil? Wir sehen uns die Geschichte des Brutalismus, die Merkmale brutalistischer Architektur sowie einige interessante Bauwerke genauer an. Wie sehen wir den Brutalismus heute und weshalb polarisieren brutalistische Gebäude so sehr? Ihr erfahrt es direkt in diesem Blogbeitrag!

Entstehung des Brutalismus

Die Blütezeit des Brutalismus zog sich etwa von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein. Abgeleitet wurde der Begriff vom französischen Wort „brut“, was sich mit „roh“ übersetzen lässt und bereits auf die auffälligsten Merkmale des brutalistischen Baustils verweist.

Ehrlicher, grundsolider Beton ohne Verputzung wurde das Markenzeichen eines Architekturstils, den Menschen entweder hassen oder als faszinierend empfinden. Brutalismus polarisiert, damals wie heute. Tatsächlich entwickelte sich der Brutalismus als Reaktion auf den Internationalen Stil. Zu glatt und zu steril, fanden Vorreiter wie der Architekt Le Corbusier. Struktur und Material sollten im Vordergrund stehen.

Von 1960 bis in die 1970er Jahre breitete sich der Brutalismus von Nordamerika über Europa bis nach Australien aus. Vor allem große Institutionen, Regierungen und Universitäten nutzten die kraftvolle, monumentale Präsenz der brutalistischen Architektur, um Gebäude zu schaffen, die im Gedächtnis bleiben.

Wie es mit vielen Architekturstilen üblich ist, verlor sich das Interesse am Brutalismus bald wieder. In den vergangenen Jahren jedoch erlebt brutalistische Architektur eine Art Renaissance, aus der bereits weitere interessante Gebäude hervorgegangen sind.

Merkmale des Brutalismus

Das wohl deutlichste Merkmal des Brutalismus ist der hohe Einsatz von Beton. Dessen Robustheit wird offen gezeigt, um die Monumentalität der Gebäude zusätzlich zu unterstreichen. Filigrane, weiche Formen suchen Betrachter hier vergeblich.

Ein Bauwerk im Brutalismus-Stil verzichtet auf dekorative Elemente und präsentiert stattdessen rohe, unverputzte Betonflächen. Klare geometrische Formen stechen deutlich aus der Umgebung hervor und ziehen mühelos alle Blicke auf sich.

Zusätzlich zur Fassadengestaltung wird die Funktionalität einzelner Bauteile stark betont. Treppenhäuser bleiben sichtbar und werden sogar direkt nach außen verlagert, um als ästhetische Elemente zu dienen. Diese massiven Gebäude erinnern ein wenig an moderne Interpretationen alter romanischer Burgen und Schlösser, verbunden mit futuristischen, geraden Formen.

Beispiele für Brutalismus

Boston City Hall

Boston, USA (1968)

Das Boston City Hall ist das markante Rathaus von Boston, der Hauptstadt von Massachusetts. Dieses im Stil des Brutalismus entworfene Gebäude wurde von 1963 bis 1968 erbaut und liegt im Regierungszentrum Bostons. Inspiriert wurde es dabei vom Konzept der bürgerlichen Monumentalität und die Architekten ließen neben dem Brutalismus eine Vielzahl von weiteren Stilen einfließen.

Teile des Gebäudes weisen auf Ideen von Architekten wie Le Corbusier hin. Dazu zählen beispielsweise die Sichtbetonkonstruktionen des Gebäudes. Andererseits erinnern einige Elemente an klassisches Design, so etwa die typischen Kassetten und der Bereich über den Betonsäulen. Auf dem Platz, der das das Bauwerk umgibt, finden regelmäßig Paraden und Festivals statt.

Wie die meisten Brutalismus-Gebäude polarisierte das Boston City Hall von Beginn an. Das Rathaus und seine Umgebung wurden in der Öffentlichkeit eher kontrovers aufgenommen. Bis heute sind sich Anwohner und Besucher uneinig, ob sie es lieben oder hassen sollen. Im Jahr 2004 erfuhr die Beliebtheit des Boston City Hall einen neuen Tiefpunkt. Der acht Hektar große Bereich um das Rathaus wurde aus hunderten von Vorschlägen zum hässlichsten öffentlichen Ort der Welt gewählt.

Der seit 1993 regierende Bürgermeister Thomas Menino schlug 2006 letztendlich vor, das Rathaus abzureißen, das Grundstück an private Investoren zu verkaufen und anderer Stelle ein Neues zu erbauen. Angesichts der Rezession wurden diese Pläne im Dezember 2008 aufgegeben und so blieb das Gebäude bestehen.

Habitat 67

Montreal, Kanada (1967)

Beim Habitat 67 handelt es sich um ein ikonisches Architekturprojekt mit zweifellos hohem Wiedererkennungswert, wie es für Brutalismus-Gebäude üblich ist. Präsentiert wurde es während der Expo 67, der Weltausstellung in Montreal, Kanada. Die Entwürfe lieferte der israelisch-kanadische Architekt Moshe Safdie mit dem Ziel, einen innovativen Ansatz für die Herausforderungen des städtischen Wohnens zu bieten.

Auf diese Weise beabsichtigte er, zu zeigen, wie erschwinglicher Wohnraum geschaffen werden kann, um die Vorzüge des ländlichen Wohnens mit der Urbanität zu verbinden. Habitat 67 besteht aus einzelnen modularen Wohneinheiten, die letztendlich zu einer komplexen, dreidimensionalen Struktur zusammengefügt wurden.

Es ist möglich, diese einzelnen Bausteine in unterschiedlichen Konfigurationen zu stapeln. Dadurch erschuf der Architekt sowohl Privat- als auch Gemeinschaftsbereiche. Geplant war Habitat 67 als temporäres Bauwerk, erhielt jedoch weit mehr Aufmerksamkeit als gedacht.

Daher wurden einige dieser kubischen Module auch nach der Expo 67 weiterhin als Wohnraum genutzt. Bereits auf den ersten Blick ist klar: Dieses Brutalismus-Bauwerk wirkt ganz anders als es für diesen Architekturstil üblich ist.

Die unregelmäßigen Höhen zwischen den Modulen und die offenen Terrassen gleichen den rohen Sichtbeton aus. Es entsteht trotz der Schwere des Betons ein weitläufiges Wohngefühl, welches die Bewohner noch heute zu schätzen wissen.

Royal National Theatre

London, Großbritannien (1951-1976)

Es wurde viel diskutiert, bevor das Parlament im Jahr 1949 schließlich einen Entschluss fasste: London würde ein Nationaltheater erhalten. Eine Million Pfund an öffentlichen Geldern wurde für den Bau am Südufer der Themse genehmigt. Bereits 1951 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung durch Königin Elizabeth, doch dabei blieb es nicht.

Die Pläne der Stadt zum Bau des Nationaltheaters änderten sich. Auch der Standort wurde verlegt. Nicht einmal oder zweimal, sondern mehrmals. Da wäre es beinahe effizienter gewesen, den Grundstein auf Rollen zu montieren. Erst 1976 wurde das Theater nach zahlreichen Baustopps und Verzögerungen fertiggestellt.

Ganz im Geiste des Brutalismus ist das Royal National Theatre definitiv eine Erscheinung, die sich sehen lassen kann. Es war zu seiner Zeit das größte Bauprojekt für ein Theatergebäude. Neben einem geräumigen Foyer verfügt es über mehrere Bars, einige Cafés und auch Werkstätten, Büros, Umkleidekabinen für das Personal sowie verschiedene Proberäume.

Brutalismus in Deutschland

Feldbergkirche

Feldberg, Baden-Württemberg (1962-1965)

Sie ist vermutlich eine der bekanntesten Kirchen Deutschlands. Die Feldbergkirche war zur Bauzeit die höchstgelegene Pfarrkirche des Landes, mit 1.260 m über dem Meeresspiegel. Geplant wurde dieses besondere Gebäude vom Architekten Rainer Disse. Wie viele berühmte Bauwerke ging auch die Feldbergkirche aus einem Wettbewerb hervor. Disses Entwurf im Stil des Brutalismus erhielt 1961 den ersten Preis.

Bereits ein Jahr später begannen die Bauarbeiten und 1963 erfolgte die Grundsteinlegung. Nach wenigen Jahren, genauer gesagt am 28. August 1965 war es so weit. Erzbischof Hermann Schäufele weihte die Kirche mit der sonderbaren Silhouette.

Letztendlich war es die besondere Lage, verbunden mit der Statik des Gebäudes, welche zu schweren Schäden führte. Das brutalistische Gebäude mit dem Beinamen Verklärung Christi konnte dem starken Schneefall in den Jahren 1971 und 1981 kaum etwas entgegensetzen.

Erst führte der hohe Schneedruck 1971 zum Bersten mehrerer Scheiben, eh zehn Jahre später, am 26. Dezember 1981, während des Gottesdienstes eine Schicht aus fast 4 m Schnee das Dach eindrückte.

Zwar konnten die Schäden behoben werden, doch noch immer sorgt die Lage des Kirchengebäudes für hohe Unterhaltskosten. Ein beeindruckendes Gebäude, deren Architektur im Brutalismus-Stil aus der Umgebung hervortritt, ist die Feldbergkirche allemal.

Bierpinsel

Berlin Steglitz, Berlin (1972-1976)

Wer schon einmal auf der Schlossstraße in Berlin Steglitz, der zweitgrößten Einkaufsstraße der Stadt, unterwegs war, kennt ihn: den Bierpinsel. Ganze 47 m erhebt sich der brutalistische Turm über die Dächer umliegender Gebäude. Doch wieso heißt der Turm Bierpinsel, warum ist er so bunt und überhaupt – ist das nicht eine Bausünde?

Erbaut wurde der Turm im Stil des Brutalismus von 1972 und 1976. Die Pläne dafür lieferten die Architekten Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte, welche auch das ICC Berlin entwarfen. Woran erinnert euch die Silhouette des Turms? An einen Baum? Nicht? Jedenfalls war dies der künstlerische Ansatz der Pop-Art. Am 13. Oktober 1976 öffnete der Bierpinsel als Turmrestaurant Steglitz.

Die Berliner sind bekannt dafür, ihren Gebäuden mehr oder weniger liebevolle Spitznamen zu geben. Wieso heißt der Bierpinsel also Bierpinsel? Zunächst einmal erinnerte schon das Baugerüst an einen Rasierpinsel und da seit der Eröffnung des Restaurants dort Freibier ausgeschenkt wurde, festigte sich der Name schnell.

Restaurants, Bars und Diskos wechselten auf den drei Etagen des Turms und nachdem 2010 der letzte Mieter auszog, stand der Turm leer. Seine bunte Fassade erhielt er im Zuge einer Aktion verschiedener Streetart-Künstler. Durch einen Wasserschaden ist dieses Bauwerk des Brutalismus allerdings sanierungsbedürftig und steht seit 2017 unter Denkmalschutz.

Im Jahr 2021 wurde der Turm an einen Investor verkauft. Bald soll dem Bierpinsel wieder neues gastronomisches Leben eingehaucht werden. Ein Termin für die Wiedereröffnung steht noch nicht, 2025 soll es aber so weit sein.

Bruder-Klaus-Kapelle

Mechernich, Nordrhein-Westfalen (2005-2007)

Die Geschichte vom heiligen Bruder Nikolaus von Flüe kennt in der Schweiz so ziemlich jeder. Dabei handelt es sich um einen Mann, der im 15. Jahrhundert lebte und als bekanntester Fastender der Schweiz gilt.

Fast 20 Jahre lang soll er als Einsiedler und Asket fernab aller Siedlungen gelebt und gefastet haben. Als wohl einflussreichster Schweizer Einsiedler beriet er Politiker und genoss ein hohes Ansehen. Er gilt als Schutzpatron der Schweiz und wurde 1947 heiliggesprochen. Im Auftrag einer Familie, die Bruder Klaus ein Denkmal setzen wollte, entwarf der renommierte Schweizer Architekt Peter Zumthor die Feldkapelle.

Wie ein unumstößlicher Monolith ragt die Kapelle seit 2007 aus ihrer kargen Umgebung hervor. Der 12 m hohe Turm zeigt im Stil des Brutalismus, dass auch einfache Formen aus rohem Beton eine gewisse Ästhetik besitzen. Angelehnt an die Einsiedelei des Bruder Klaus ist die kleine Kapelle einsam, ohne jeglichen Schmuck und dennoch etwas ganz Besonderes.

Der Bau gestaltete sich als ebenso besonders. Die Baubeteiligten errichteten eine zeltförmige Konstruktion aus 112 Fichtenstämmen, bevor rund herum der Körper des Gebäudes entstand. Verwendet wurde dabei traditioneller Stampfbeton.

Im Herbst 2006 wurden die Baumstämme durch ein dreiwöchiges Feuer langsam verkohlt, sodass sie sich vom umgebenden Beton lösten. Dadurch entstand die ganz besondere Form der Innenwände. Nach dem Ausbau der stützenden Baumstämme wurde eine Legierung aus Zinn und Blei als Fußboden eingebracht. Nach oben hin ist der Innenraum offen und bietet Wandernden einen naturnahen Ort der Ruhe.

Wie wirkt Brutalismus heute?

Der Brutalismus hat zweifellos eine große künstlerische und architektonische Bedeutung. Trotz dessen polarisieren brutalistische Bauten immer wieder. Vielen Menschen kommen diese massiven Betonstrukturen in erster Linie deprimierend und kalt vor. Mit Schönheit haben die meisten dieser Gebäude eher wenig zu tun.

Allerdings liegt Schönheit bekanntlich im Auge des Betrachters. Zunächst schien der Brutalismus als Nachkriegsarchitektur in der Versenkung verschwunden. In den letzten Jahren allerdings erlebte dieser Architekturstil eine Art Renaissance.

Die rohen Betonwände mit ihren bizarren Formen passen vielerorts nicht zur Umgebung, ob nun in der Stadt oder der Natur. Dadurch fallen brutalistische Bauwerke zwar auf, aber oftmals nicht unbedingt positiv. Schon allein das Ausmaß dieser kolossalen Gebäude sorgt für eine eher düstere Atmosphäre.

Ein weiterer wichtiger Punkt, über den wir sprechen sollten, ist die Nachhaltigkeit von Brutalismus-Bauwerken. Beton als Hauptmaterial birgt an sich bereits ein großes Konfliktpotenzial. Wir haben bereits in vielen unserer Blogbeiträge über die schlechte Klimabilanz von Beton, genauer gesagt dem verwendeten Zement, gesprochen.

Doch nicht nur der Bau an sich, auch die Instandhaltung ist problematisch. Sichtbeton ist nicht unbegrenzt haltbar. Viele Brutalismus-Gebäude zeigen schon früh allein durch allgemeine Witterungseinflüsse wie Regen oder Schnee erste Risse. Daher müssen sie für viel Geld regelmäßig instandgesetzt und saniert werden, um sie erhalten zu können.

Die Ehrlichkeit und Unverblümtheit dieses Baustils findet immer wieder Anhänger. Bestehende Brutalismus-Bauwerke, wie der Bierpinsel in Berlin, werden wieder saniert, um sie als Denkmäler erhalten zu können. Mit dem Bestand zu arbeiten, ist natürlich immer eine gute Sache. Aber neue Gebäude im Stil des Brutalismus zu bauen: Das muss nicht sein. Nicht aus ästhetischer Sicht und auch nicht in Hinblick auf unsere Umwelt.

Fazit: Brutalismus als Architekturstil

Eines hat sich nicht geändert: Brutalismus polarisiert. Gerade solche Gebäude zeigen deutlich, wie unterschiedlich Menschen auf ungewöhnliche Formen und Strukturen im Bauwesen reagieren. Dieser Umstand macht Architektur allerdings auch so spannend und interessant.

Was bei Betrachtern solcher Bauwerke im Gedächtnis bleibt, sind die rohe Monumentalität und die unverwechselbare Ausdruckskraft des Brutalismus. Die Architektur des Brutalismus ist ein Versuch, sichtbare Funktionalität und Ästhetik zu vereinen. Ob dieser Versuch gelungen ist? Das muss am Ende wohl jeder für sich entscheiden.


Autor

Frau Ruthe ist im Marketing als Copywriterin zuständig für die Erstellung kreativer Texte und packender Headlines.