Seit jeher sind wir Menschen fasziniert von besonderen Bauwerken. Besonders von jenen, die so hoch in den Himmel ragen, dass wir uns kaum vorstellen können, wie Menschen in der Lage sind, so etwas Beeindruckendes zu erschaffen. Wie funktioniert so etwas und wie gelingt es, dass ein so hohes Gebäude wie ein Wolkenkratzer allen Naturgewalten trotzt?
In der Baubranche haben wir darauf natürlich sehr konkrete Antworten. Dennoch ist es immer wieder ein gewisses Gefühl von Ehrfurcht, das in uns aufsteigt, wenn wir vor einem dieser Giganten stehen. Wolkenkratzer entstehen aus ausgeklügelten Plänen kluger Köpfe, die alle möglichen Umstände und Gegebenheiten bei der Planung berücksichtigen müssen. Nicht immer gelingt das, wie dieser Fall, den wir euch im folgenden Blogbeitrag genauer vorstellen wollen, eindrucksvoll beweist.
Um welches Gebäude geht es?
Der Wolkenkratzer, über den wir sprechen wollen, befindet sich in London, genauer gesagt im Zentrum, an der 20 Fenchurch Street. Schon von Weitem ist er leicht erkennbar, denn nach oben hin vergrößern sich stetig die Flächen der Stockwerke, sodass die oberste Etage weit über den Grundriss des Gebäudes hinausragt. Diese recht ungewöhnliche Form brachte ihm die Beinamen „Walkie-Talkie“ und auch „The Pint“ ein, da es an ein überschäumendes Bierglas erinnert.
Entworfen wurde es im Jahr 2004 vom namenhaften Architekten Rafael Viñoly. Fünf Jahre später begann der Bau und 2015 konnte der Wolkenkratzer, gebaut vom Immobilienunternehmen „Land Securities and Canary Wharf“, im Bankenviertel eröffnet werden.
Die konkav gewölbte und verspiegelte Fassade sollte sich ursprünglich über eine Höhe von 200 m aufbauen, wurde allerdings wegen der Nähe zur St Paul’s Cathedral und zum Tower of London auf 160 m reduziert. Schließlich sollen die Sichtkorridore auf Wahrzeichen der Stadt freibleiben.
Die Besonderheit des Gebäudes ist seine spezielle Form und seine durchdachte Lage. Da nur Südseite von direktem Sonnenlicht getroffen wird, ergeben sich daraus eine automatische Belüftung der Fassade und die effiziente Klimatisierung des Gebäudes.
Das Bürogebäude umfasst 37 Stockwerke, verschiedene Restaurants, Bars und eine eigene Brasserie. Highlight ist allerdings der sogenannte Skygarden im 35. Stock, Londons höchster öffentlicher Park. Dieser zieht sich über drei Etagen mit viel Grün, Ruheplätzen und Ausblick auf Sehenswürdigkeiten der Stadt. Hier finden auch Veranstaltungen wie Partys und andere Events statt.
Wirkung auf die Londoner
Was aber sagten die Londoner zu ihrem neuen Wolkenkratzer? Tatsächlich waren sich die meisten einig: Hier hatte die Bauindustrie einen neuen Schandfleck geschaffen. Schon während des Baus wurden erste Proteste laut.
Von außen betrachtet wirkt das Walkie-Talkie selbst wie ein breitschultriger Bänker im Nadelstreifen-Anzug, der sich fast bedrohlich über all die „normalen“ Häuser beugt. Der „Guardian“, das wohl populärstes Magazin Englands, bezeichnet es als „Diagramm der Gier“, weil es nach oben hin ausladender wird. Gut für den Besitzer, denn dadurch bietet sich mehr Platz für teurere Büros in den obersten Stockwerken an.
Doch nicht nur in der gemeinen Bevölkerung fand der Wolkenkratzer wenig positive Stimmen. Das Walkie-Talkie erhielt 2015 den sogenannten Carbuncle Cup. Wirklich nichts, was ein Tragwerksplaner sich für sein Gebäude wünschen würde. Denn dabei handelt es sich um den alljährlich vom „Building Design Magazine“ vergebenen Preis für das hässlichste Gebäude Großbritanniens.
Das Gefährliche am Walkie-Talkie
Moment, werdet ihr sagen. Bisher haben wir nur davon gesprochen, dass „The Pint“ höchstens eine Gefahr für das Auge sein könnte. Aber ist der Titel dieses Blogs dann nicht etwas übertrieben? Ganz und gar nicht. Das Ästhetische ist schließlich bei weitem nicht das einzige Problem am ungewöhnlichen Wolkenkratzer.
Bei der Tragwerksplanung wurden einige wichtige Faktoren nicht beachtet. Die Einwirkung des Gebäudes auf die Umwelt wurde hier vernachlässigt oder zumindest weit unterschätzt. Schon während des Baus traten die ersten Probleme auf.
Starke Fallwinde
Das Walkie-Talkie hat als Wolkenkratzer mitten in London eine geradezu umwerfende Wirkung, wortwörtlich. Denn der Wind aus Südwesten fängt sich in der geschwungenen, 36 Stockwerke hohen Fassade und verursacht extreme Fallwinde, die Fußgänger sogar von den Füßen holen können. Auch Café-Schilder fliegen durch die Luft.
Vorsicht, heiß
Nicht nur die Fallwinde am Walkie-Talkie waren ein Problem. Die eigenwillige Form des Gebäudes sorgte für weit verheerendere Schäden. Denn durch die konkave Glasfront zur Straße hin entfaltete sich eine fatale Brennglaswirkung. Die konkav geschwungene Südfassade reflektierte und bündelte die Sonnenstrahlen wie ein Brennglas, wodurch Temperaturen von bis zu 90 Grad entstanden.
Das Ergebnis waren aufgeheizte Ladengeschäfte auf der anderen Straßenseite. Beim Friseursalon gegenüber fraß sich sogar ein Brandloch in die Fußmatte. Die Londoner versuchten zunächst, es mit Humor zu nehmen und es gingen Videos viral, in denen sich englische Reporter vor laufender Kamera Eier auf der Nische eines anliegenden Ladens braten konnten.
Die Wölbung der Fassade forderte jedoch weitere Opfer. So schmolz unter der gebündelten Sonneneinstrahlung regelmäßig der Lack von geparkten Autos. Und das Problem war bekannt, denn bereits 2013, also mitten im Bau, schmolzen hier Kunststoffteile von Karosserien. Als Höhepunkt dessen entstanden an einem hochpreisigen Jaguar innerhalb von 2 h Parkdauer Reparaturkosten von knapp eintausend Pfund.
Es dauerte eine Weile, bis die Verantwortlichen reagierten. Ein nachträglich hinzugefügtes Lamellengitter zieht sich heute über die gebogene Glasfront, um einen größeren Verschattungseffekt zu erzeugen und weitere Schäden zu verhindern.
Wie können solche Fehler vermieden werden?
Bei der professionellen Planung eines Gebäudes ist es wichtig, alle Aspekte, auch die Wirkung auf seine Umgebung, zu beachten. Hier sollte nicht nur die Statik an sich fehlerfrei sein. Heute sind Berechnungen von Windeinflüssen zum Glück wesentlich einfacher.
Aus dem Hause Dlubal möchten wir allen Bauingenieuren und Bauingenieurinnen unser Windsimulationsprogramm RWIND wärmstens empfehlen. Mit diesem Programm lassen sich Winddrücke und das Verhalten von Windströmungen an Gebäuden schnell und einfach ermitteln. Probiert es gerne einmal selbst aus und ladet euch die kostenlose Testversion herunter!
Mehr über RWIND SimulationEin ähnliches Problem mit diesem sogenannten Brennglaseffekt trat übrigens bereits bei anderen von Viñoly entworfenen Gebäuden auf. Im 2003 eröffneten gläsernen Vdara-Hotel in Las Vegas bildete sich durch die Fassade beinahe schon ein „Todesstrahl“ schräg nach unten: direkt auf die Schwimmbad-Terrasse mit den Liegestühlen. Auch hier musste nachträglich an einer Lösung gearbeitet werden. Wie kann so etwas gleich zweimal passieren? Darauf haben wir leider auch keine befriedigende Antwort.
Oft wird bei der Planung der Gebäude nur der Schattenwurf berechnet, nicht aber Effekte von Sonneneinstrahlung. Hier zeigt sich wieder, wie wichtig es ist, ein Bauprojekt ganzheitlich zu betrachten und vor allem, aus bereits geschehenen Fehlern unbedingt zu lernen.
Im Falle des Walkie-Talkies oder auch Bierglases in London wurde noch ein weiterer wichtiger Aspekt des Bauens nicht beachtet: die Menschen selbst. Denn letztendlich soll ein solches Gebäude erschaffen werden, um den Menschen einen Nutzen zu bringen. Die Londoner möchten stolz auf ihre Skyline sein und damit natürlich auf das Erscheinungsbild ihrer Stadt. Hier wurde leider sehr deutlich kein Wert auf die Meinung der Öffentlichkeit gelegt und das spiegelt sich im Preis für das hässlichste Gebäude des Jahres 2015 wider.