30x
004733
1. Januar 0001
2 Theoretische Grundlagen

2.6.1 Bemessungsschnittgrößen

Bemessungsschnittgrößen

Im Gegensatz zum Transformationsverfahren für den Grenzzustand der Tragfähigkeit kann keine rein geometrische Aufteilung der Hauptschnittgrößen in Schnittgrößen in die einzelnen Bewehrungsrichtungen erfolgen. Eine solche Aufteilung setzt ein Dehnungsverhältnis der später eingelegten Bewehrung von 1.0 voraus. Damit beide Bewehrungsscharen eine gleiche Dehnung erfahren, müssten aber bei unterschiedlichen Bemessungskräften in diese Bewehrungsrichtungen jeweils entsprechende Bewehrungsquerschnitte vorgesehen werden. Im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit werden jedoch die Bemessungsschnittgrößen für eine vorhandene Bewehrung gesucht.

Im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit wird keine erforderliche Bewehrung ermittelt, sondern es wird mit der vorhandenen Bewehrung das tatsächlich vorhandene Dehnungsverhältnis bestimmt. In allen Fällen, in denen die eingelegte Bewehrung von der erforderlichen Bewehrung abweicht, entspricht das tatsächlich vorhandene Dehnungsverhältnis der Bewehrungen nicht dem Wert 1.0.

Die Annahme eines identischen Dehnungsverhältnisses ist somit unzulässig. Es muss ein anderes Dehnungsverhältnis gefunden werden, das die daraus resultierenden Bemessungsschnittgrößen bestätigt. Bei der Lösung dieser Aufgabe spielt der geometrische Zusammenhang zwischen Dehnungsverhältnis und Betondruckstrebenrichtung eine große Rolle.

Baumann [1] schreibt hierzu: „Vernachlässigt man die Stauchung des Betons, da sie im Allgemeinen klein ist gegenüber der Dehnung der Bewehrung, so erhält man aus Bild 38 als Verträglichkeitsbedingung:“

εyεx = sin2 β - γsin2 γ - α 

Das folgende Bild 2.80 zeigt das im Zitat erwähnte Bild 38 mit der Verträglichkeitsbedingung der Dehnungen bei einem zweibahnigen Bewehrungsnetz.

Bild 2.80 Verträglichkeit der Dehnungen

In Gleichung 2.62 sind εy und εx die Dehnungen zweier Bewehrungsscharen. Die Winkel α und β stellen die Zwischenwinkel zwischen Hauptkraftrichtung und der Richtung der jeweiligen Bewehrungsschar dar. Der kleinere Zwischenwinkel wird mit α bezeichnet. Der Winkel γ bezeichnet den Differenzwinkel zwischen der Richtung der Betondruckstrebe und der Richtung der ersten Hauptschnittgröße.

Die Winkel α und β sind durch die Wahl der Bewehrungsrichtung nicht veränderbar. Der Winkel γ hingegen ändert sich dann, wenn durch die unterschiedlich steifen Bewehrungsrichtungen eine andere Richtung der Betondruckstrebe notwendig ist, um das Bewehrungsnetz auszusteifen.

Die Bemessungsschnittgrößen in die einzelnen Bewehrungsrichtungen sind von der gewählten Richtung der Betondruckstrebe abhängig. Mit diesen Bemessungsschnittgrößen lassen sich die Spannungen in den Bewehrungen der einzelnen Richtungen bestimmen. Basierend auf diesen Spannungen werden in den diversen Normen Formeln genannt, mit denen die mittleren Dehnungen der Bewehrung gegenüber dem Beton ermittelt werden können. In EN 1992-1-1 geschieht dies nach Gleichung (7.9):

εsm - εcm = σs - kt · fct,effρp,eff · 1 + αe · ρp,effEs  0.6 · σsEs 

Es kann dann der Quotient aus den Differenzen der Dehnungen zwischen Beton und Betonstahl der zweiten und ersten Bewehrungsrichtung bestimmt werden.

Qε = εsm - εcmϕ2εsm - εcmϕ1 

Aus Gleichung 2.62 geht ebenfalls ein Quotient der Dehnungen hervor, der sich aus den geometrischen Gesetzmäßigkeiten herleitet.

Qε,geo = εϕ2εϕ1 = sin2 β - γsin2 γ - α 

Bei beiden Quotienten erscheint die Dehnung der zweiten Bewehrungsrichtung im Zähler. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die erste Bewehrungsrichtung mit der ersten Hauptschnittgröße den kleineren Differenzwinkel bildet. Würde die zweite Bewehrungsrichtung mit der ersten Hauptschnittgröße den kleineren Differenzwinkel bilden, so fänden sich die Dehnungen der ersten Bewehrungsrichtung im Zähler des Quotienten wieder.

Beide Quotienten hängen von der gewählten Richtung der Betondruckstrebe ab. Es wird nun versucht, die Richtung der Betondruckstrebe so zu wählen, dass beide Quotienten identisch werden.

Qε = Qε, geo 

Falls das geometrische Dehnungsverhältnis Qε,geo nach einem Rechenlauf noch nicht dem tatsächlichen Dehnungsverhältnis entspricht, wird eine neue Druckstrebenrichtung festgelegt und das daraus resultierende geometrische Dehnungsverhältnis bestimmt. Dieser Vorgang wird iterativ so lange durchlaufen, bis sich eine Konvergenz einstellt.

Die Bestimmung der Bemessungsschnittkräfte durch die Wahl der geeigneten Druckstrebenrichtung stellt den anspruchsvollsten Teil des Gebrauchstauglichkeitsnachweises dar. Falls die gewählte vorhandene Bewehrung annähernd der statisch erforderlichen Bewehrung für die untersuchten Gebrauchslastgrößen entspricht, unterscheiden sich die Bemessungsschnittgrößen nur unwesentlich von jenen Schrittgrößen, die sich bei einem vorausgesetzten Dehnungsverhältnis von 1.0 ergeben würden. RF-BETON Flächen bietet deshalb zusätzlich die Möglichkeit, Bemessungsschnittgrößen mit einem vorausgesetzten Dehnungsverhältnis von 1.0 ermitteln zu lassen.

Hinweis

Bemessungsschnittgrößen für den Gebrauchstauglichkeitsnachweis werden nur dann ermittelt, wenn es durch das Aufreißen des Betons zu einer Aktivierung der Bewehrung kommt. Dazu werden die Betonzugspannungen untersucht, die durch die erste Hauptschnittgröße verursacht werden.

Literatur
[1] Deutscher Ausschuss für Stahlbeton, Heft 217: Tragwirkung orthogonaler Bewehrungsnetze beliebiger Richtung in Flächentragwerken aus Stahlbeton (von Theodor Baumann). Verlag Ernst & Sohn, Berlin, 1972.
Übergeordneter Abschnitt